Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

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10. November 2015

Gedenken an den 9. November 1938 am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge und im Alten Rathaus

München, 9.11.2015.  München gedachte auch an diesem 9. November der Münchnerinnen und Münchner, die in der „Reichskristallnacht“ 1938 und in den darauf folgenden Jahren entrechtet, deportiert und ermordet wurden. In der Lesung am Nachmittag am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge wurde an die jüdischen Münchnerinnen und Münchner erinnert, die der nationalsozialistischen „Schutzhaftaktion“ zum Opfer gefallen waren oder sich in ihrer Verzweiflung auf dem Hintergrund der gewalttätigen Ereignisse des Novemberpogroms das Leben nahmen.

Ein Münchner, Joachim Both, wurde in seiner Wohnung ermordet; etwa 1.000 Männer aus München wurden als „Aktions-Häftlinge“ in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Über 30 von ihnen kamen nachweislich ums Leben. 22 jüdische Münchnerinnen und Münchner nahmen sich in diesen Tagen das Leben; für sie war Suizid ein letzter, verzweifelter Ausweg.

Auch ihre Familien waren Leidtragende der Gewalt. Selbst wenn sie sich ins Ausland retten konnten, so blieben doch die traumatisierenden Erfahrungen von Staatsterror, von Schutzlosigkeit und der schmerzhafte Verlust nahestehender Menschen. Ihr Leben nahm mit dem 9. November 1938 eine unumkehrbare Wendung.

Die Lebensgeschichten dieser Menschen und ihrer Familien zeugten davon, wie tief verwurzelt sie in der Münchner Stadtgesellschaft waren.

Die Gedenkstunde am Abend hatte den „Wandel des Gedenkens an den 9. November 1938 seit Kriegsende“ zum Thema – und ebenso spielte das aktuelle Geschehen eine große Rolle.

Am Abend fand im Saal des Alten Rathauses – an jenem historischen Ort, von dem aus vor 77 Jahren mit der Hetz-Rede von Joseph Goebbels die „Reichskristallnacht“ initiiert wurde – die zentrale Gedenkfeier zum 9. November 1938 statt. In den Reden von Oberbürgermeister Dieter Reiter und Dr. h.c. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, spiegelte sich die aktuelle politische und gesellschaftliche Situation wider – insbesondere das Erstarken der rechtsradikalen Kräfte in Deutschland, der Zulauf bei rechtspopulistischen Demonstrationen wie von Pegida und Co.

Tagsüber hatte das Verwaltungsgericht München das von der Stadt erlassene Verbot der Pegida-Demonstration an der Münchner Freiheit aufgehoben.

Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter, der von der Anti-Pegida-Demonstration direkt in den Rathaussaal gekommen war, ging in seiner Rede auf die historische und aktuelle Dimension der Ausgrenzung von Minderheiten ein und auf die Notwendigkeit des rechtzeitigen Eingreifens der demokratischen Kräfte. Zur Anti-Pegida Demonstration hatte „München ist bunt“ gemeinsam mit dem „Münchner Bündnis für Toleranz, Demokratie und Rechtsstaat“, bei dem die Regionale Arbeitsgruppe München Mitglied ist, aufgerufen. Der Oberbürgermeister erinnerte an das Novemberpogrom 1938 „das den Terror gegen die jüdische Bevölkerung weiter massiv verschärft und damit die systematische Verfolgung, Vertreibung und schließlich die Vernichtung der Juden eingeleitet hat. Die nichtjüdische Bevölkerung hat damals mehrheitlich einfach zugeschaut oder in die Hetzgesänge der Ausführenden mit eingestimmt und sich im schlimmsten Fall sogar aktiv an den Zerstörungen und Brandschatzungen beteiligt. Ihren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern geholfen haben die wenigsten. Ein wahrnehmbarer Aufschrei der Empörung blieb aus…“ Die damalige Münchner Stadtverwaltung … „half als willfähriger Handlanger und eigenständiger Akteur nach Kräften, die Ideologie des Nationalsozialismus im Alltag umzusetzen.“

Vor diesem Hintergrund verstehe sich von selbst, dass die Landeshauptstadt München eine ganz besondere Verantwortung trage, das Gedenken an das Novemberpogrom von 1938 und an die Verbrechen und Opfer des Holocaust lebendig zu halten. Reiter: „Aber damit endet unsere Verantwortung natürlich nicht. Vielmehr kommt es darauf an, unsere demokratischen Errungenschaften … hier und heute mit Mut und Tatkraft zu verteidigen. Und so gilt all denjenigen, die Hass predigen, ausgrenzen, gegen Minderheiten hetzen, NS-Opfer verhöhnen, Geschichte verdrehen und damit ganz bewusst den Boden für neue Gewaltexzesse bereiten, all denen gilt unsere Abscheu und wichtiger noch: unsere entschiedene Gegenwehr – mit aller demokratischen Macht.“

In ihrer Rede sagte Knobloch, Deutschland stehe vor einer historischen Herausforderung. Die Stimmung sei aufgeheizt. „Übergriffe mit rechtsextremem Hintergrund steigen von Woche zu Woche. Die Kulisse liefern Pegida und Co. Auch zur Stunde marschieren sie – an diesem 9. November – bundesweit. Auch in München. Das ist mir unbegreiflich. Seit Wochen besetzen die braunen Brandstifter sensible historische Orte, um widerliche Lügen und Thesen zu proklamieren. Der Gipfel der Unerträglichkeit war die Erstürmung der Feldherrnhalle durch Neonazis in einschlägiger Pose und die höhnische Kranzniederlegung am Platz der Opfer des Nationalsozialismus. Als wäre es gestern gewesen, haben sich mir die Erinnerungen an den 9. November 1938 in meine Seele eingebrannt – sehe ich um mich herum die Bilder meiner verlorenen Heimat, in der die Synagoge brennt und geliebte Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt, geschlagen und getreten werden. Diese Bilder, diese Angst der jüdischen Menschen kann ich nicht vergessen. Deswegen ist es mir unbegreiflich und ich will es nicht hinnehmen, dass den heutigen Anfängen, die unübersehbar sind, nicht entschlossen genug gewehrt wird.“

Dr. Andreas Heusler, Leiter des Sachgebiets Zeitgeschichte und jüdische Geschichte beim Stadtarchiv München, referierte zum Thema „Der Wandel des Gedenkens an den 9. November 1938 seit Kriegsende“. Er erinnerte in einem „Zeitsprung“ an den 9. November 1945 – einem „Freitag ohne besondere Vorkommnisse. Die nationalsozialistische Vergangenheit wird, so gut es geht, weggeblendet.“ Sieben Jahre nach der „Reichskristallnacht“ wird zwar an den 9. November 1938 erinnert – aber, so Heusler, „anders, als zu erwarten wäre. Denn es ist keineswegs ein Gefühl der Scham, der Betroffenheit oder des mitfühlenden Gedenkens, das die Menschen bewegt. Im Gegenteil. Die Erinnerung an die „Reichskristallnacht“ wird von einer bizarren Verschwörungstheorie überlagert… dass die Besatzungsbehörden den zahllosen Displaced Persons an diesem Tag freie Hand lassen werden – „als Vergeltung für den Judenpogrom (…) 1938“, wie in der Münchner Stadtchronik zu lesen ist. Es ist ein wüstes Gerücht, eine bizarre Kolportage voll böser, auch antisemitischer Polemik gegen die Überlebenden.“ Natürlich geschieht nichts dergleichen im zerstörten Nachkriegs-München an diesem Tag.

Es folgten die Marksteine des Gedenkens von den zögerlichen Anfängen unter Ausschluss der Öffentlichkeit von den 1950-er Jahren an bis heute. Die frühen Gedenkakte waren meistens von den Opfern initiiert und es war nur dem Engagement von Vereinen, Verbänden und geschichtssensiblen Gruppierungen, vor allem der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit zu verdanken, dass dem Vergessen entgegenarbeitet wurde. Die Geschichte des eher spärlichen, von nicht allzu großer Öffentlichkeit begleiteten Gedenkens reichte bis zu den Jahren, in denen die Stadt München den Stab mit übernahm.

Heute aber ginge es vor allem um die Frage, ob die gegenwärtigen Formen des Gedenkens, „die seit Jahrzehnten praktizierten Rituale des Erinnerns noch genügend Reichweite und Überzeugungskraft“ hätten, die Generation, die fast ausschließlich in den flüchtigen sozialen Medien einen Resonanzraum für ihr gewandeltes Geschichtsbewusstsein finden könne, von der Notwendigkeit des Erinnerns zu überzeugen. Hat Erinnern Zukunft?

Die Rede endete mit dem eindrücklichen Gedicht der Münchnerin Gerty Spies „Was ist des Unschuldigen Schuld?“

Die Rede von Andreas Heusler, u.a. auch Mitglied von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., sowie die Reden des Oberbürgermeisters Dieter Reiter und der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, sind nachzulesen unter: www.ikg-m.de.

Veranstalter: Arbeitsgruppe „Gedenken an den 9. November 1938“

Eine Kooperation von: BayernForum der Friedrich-Ebert-Stiftung, „Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.“ – regionale Arbeitsgruppe München, Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern K.d.ö.R., Kulturreferat der Landeshauptstadt München, NS-Dokumentationszentrum München, Stadtarchiv München, Stiftung Bayerische Gedenkstätten

(Aaron Buck/Ilse Macek)

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