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1. Juli 2011

Verfassungsschutzbericht 2010: Gefahr von Rechts und Links

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat am 1.7.2011 gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes, Heinz Fromm, in Berlin den Verfassungsschutzbericht 2010 vorgestellt. „Deutschland ist und bleibt eine wehrhafte Demokratie“, sagte Friedrich. Deutschland müse jedoch „wachsam sein“, insbesondere gegenüber Terrorismus und Extremismus. Der Verfassungsschutz konstatiert eine steidende Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten sowie eine wachsende Bedrohung durch islamistischen Terrorismus und gewaltbereite linksextreme Aktivisten.

Im Bereich des Rechtsextremismus konnte Friedrich zufolge ein leichter Rückgang der Aktivisten auf 25.000 Personen festgestellt werden. Die politisch motivierte Kriminalität aus dem rechtsextremistischen Spektrum ging 2010 gegenüber dem Vorjahr um rund 15 Prozent zurück. Gezählt wurden 15.905 Delikte, 762 davon waren Gewalttaten. Rückläufig ist auch die Zahl der NPD-Mitglieder.  „Der Misserfolg der NPD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt beweist einmal mehr die Kraft der Demokraten in unserem Land“, sagte der Innenminister. Allerdings sei die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten gestiegen, sagte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm. Diese Entwicklung mache seinem Haus „viel Kummer“. Insbesondere die wachsende Gruppe der „autonomen Nationalisten“ bereitet den Sicherheitsbehörden Sorgen.

Glatze und Springerstiefel gelten in der Szene als veraltet

Nach den Beobachtungen der Verfassungsschützer sind Mitglieder der Szene immer schwerer zu erkennen. Der „klassische“ Stil mit Glatze und Springerstiefeln gelte als veraltet, weil es ein eindeutiges Erkennungsmerkmal für den politischen Gegner biete und Stigmatisierung nach sich ziehe. Rechte griffen deshalb eher zu angesagten Jugendklamotten.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft registrierte den Anstieg rechtsextremistischer Straftaten in den ostdeutschen Ländern mit großer Sorge. Ihr Bundesvorsitzender Rainer Wendt forderte: „Vor allem im Osten Deutschlands, wo 40 Prozent der rechtsextremen Gewalttaten registriert wurden bei einem bundesweiten Bevölkerungsanteil von nur 15 Prozent, müssen endlich Strategien von der Politik entwickelt werden, die dem rechtsextremen Treiben Einhalt gebieten.“ Im Osten ist der Rechtsextremismus noch immer deutlich weiter verbreitet als im Westen. In der Länderrangliste der häufigsten rechtsextremistischen Straftaten pro Einwohner führen die neuen Bundesländer. Die Deutsche Polizeigewerkschaft registriere dies mit großer Sorge. Vor allem im Osten müssten neue Strategien her, „um dem rechtsextremen Treiben Einhalt zu gebieten“, sagte Gewerkschaftschef Rainer Wendt.

Thierse: Verunsicherung macht empfänglich für rechte Botschaften

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse hat die laut Verfassungsschutz-Bericht zunehmenden rechtsextremistischen Gewalttaten in Ostdeutschland beklagt. „Dass rechtsextremistische Straftaten in Ostdeutschland überproportional häufiger zu verzeichnen sind, ist eine traurige Tatsache“, sagte er der Mitteldeutschen Zeitung. Der Osten sei seit 1990 bevorzugtes Feld rechtsextremistisch-ideologischer Indoktrinierungsversuche, so Thierse. „Die soziale Verunsicherung eines Teiles der Bevölkerung macht sie offenbar empfänglicher für die Botschaften der Vereinfachung. Gerade junge Leute sprechen darauf eher an als Menschen mit einer reichen demokratischen Erfahrung.“ Der SPD-Politiker mahnte: „Verstärkte Anstrengungen der politischen Bildung und die nachhaltige Förderung demokratischer Kultur sind daher in Ostdeutschland besonders notwendig.“

„Große Sorge“ über Linksextremismus

Im linksextremistischen Spektrum stellte der Verfassungsschutz eine erhöhte Zahl gewaltbereiter Linksextremisten fest, besonders der Autonomen. Sie stieg von 6.600 im Jahr 2009 auf 6.800 im Jahr 2010. „Wir haben zwar mehr gewaltbereite Personen in der rechten Szene“, sagte der Minister. „Betrachtet man aber die Straftaten, bei denen tatsächlich Gewalt angewandt wird, stellt man fest: Sie werden mehrheitlich von Linksextremisten verübt.“ Die Partei „Die Linke“ werde zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtet, so Friedrich. In ihr sammelten sich Kräfte, die eine Veränderung der bisherigen Staats- und Gesellschaftsform wollten.

Die Zahl der politisch motivierten Straftaten aus dem linken Spektrum ging im vergangenen Jahr zurück und schrumpfte um rund 20 Prozent auf 3.747 Fälle, davon 944 Gewalttaten. Die Szene wuchs jedoch auf 32.200 Personen an. Auch die Zahl gewaltbereiter Linksextremisten ging nach oben. In den ersten Monaten des laufenden Jahres sei die Zahl der Straftaten aus dem linksextremistischen Spektrum allerdings auf ein neues Rekordniveau geklettert, sagte Friedrich. Genaue Daten könne er noch nicht vorlegen. Klar sei jedoch, dass der Rückgang im vergangenen Jahr keine erfreuliche Trendwende, sondern eine Ausnahme sei. Die linksextremistische Szene zeige in jüngster Zeit eine „deutlich erhöhte Aggressivität und Risikobereitschaft“ und attackiere vermehrt Mitglieder des rechtsextremistischen Spektrums. Es gebe die „Gefahr einer Gewaltspirale“. Diese stelle auch eine Bedrohung für die Polizei dar, die bei Veranstaltungen von beiden Seiten attackiert werde.

Insgesamt „schenkt sich die menschenverachtende Haltung von Links- und Rechtsautonomen nichts“, betonte der Bundesinnenminister.

Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) sagte der Neuen Osnabrücker Zeitung, die Entwicklung sei höchst beunruhigend. Nach seiner Einschätzung stehen linke Gewalttäter inzwischen „an der Schwelle zu einem neuen Linksterrorismus“. Friedrich räumte ein, wenn der Trend anhalte, könnte Schünemann mit dieser Einordnung Recht haben.
„Bedrohung durch Islamisten bleibt“

Verfassungsschutz warnt weiter vor islamistischem Terror

Ein Problem ist laut Verfassungsschutz weiterhin auch die Bedrohung durch islamistische Terroristen. Nach dem Tod von Al-Kaida-Führer Osama bin Laden gebe „keinen Grund zur Entwarnung“, sagte Friedrich. Diese Bedrohung existiere in großer Vielfalt und konzentriere sich längst nicht mehr auf einen einzigen Anführer. Die Zahl der Mitglieder und Anhänger der 29 in Deutschland aktiven islamistischen Organisationen habe im vergangenen Jahr noch einmal deutlich zugenommen, sagte der Minister. Sie sei 2010 um 1.100 auf 37.370 Mitglieder gestiegen.

Gestützt auf das Internet, missbrauchten vor allem Salafisten die Begeisterungsfähigkeit von Jugendlichen für ihr Ziel, die Bundesrepublik im Sinne der Scharia, des religiösen Gesetzes des Islam, umzugestalten. Der Minister sagte, für Deutschland wie Europa gelte seit ein bis zwei Jahren eine allgemeine Bedrohung. Die Lage habe sich nicht entspannt. Ein konkrete Gefährdung liege aber nicht vor.

Laut Verfassungsschutzbericht verändert sich auch die Art der Bedrohung. Friedrich wies auf die besondere Bedrohung durch internetbasierte Angriffe auf Computersysteme von Wirtschaftsunternehmen und Regierungsstellen hin. Diese Angriffe seien zahlreicher und komplexer geworden. Gerade kleine und mittlere Unternehmen verfügten hier noch nicht über die nötige Sensibilität und das Know-how, um sich vor den Angriffen zu schützen.

Spionageabwehr

„Deutschland bleibt Ziel der Aufklärung durch ausländische Nachrichtendienste“, stellte der Bundesinnenminister fest. Weiterhin versuchten die Dienste „möglichst früh im politischen Meinungsbildungsprozess“ Informationen abzuschöpfen. Der Schwerpunkt der Spionage verlagere sich aber Richtung „Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung.“ Als Methode der Abschöpfung würden immer häufiger internetbasierte Angriffe gewählt. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen verfügten noch nicht über die nötige Sensibilität und das Know-how, um sich vor den Angriffen zu schützen. Um sie zu schützen und schnell und zwischen den Sicherheitsbehörden abgestimmt handeln zu können, habe die Bundesregierung das Nationale Cyber-Abwehrzentrum geschaffen.

Nachfolgend die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:

  • 2010 wurden 20.811 politisch motivierte Straftaten mit extremistischem Hintergrund registriert; ein Jahr zuvor waren es 24.952 gewesen
  • 15.905 Delikte kamen aus dem rechtsextremistischen Spektrum – rund 15 Prozent weniger als ein Jahr zuvor; 762 davon waren Gewalttaten
  • 3.747 Straftaten kamen aus dem linksextremistischen Spektrum – rund 20 Prozent weniger als ein Jahr zuvor; 944 davon waren Gewalttaten
  • Für die ersten fünf Monate des laufenden Jahres meldete das Bundesinnenministerium einen deutlichen Anstieg linksextremistischer Straftaten; Zahlen legte das Ministerium dazu aber nicht vor
  • Der rechtsextremistischen Szene werden rund 25.000 Mitglieder zugerechnet; 9.500 davon gelten als gewaltbereit
  • Der linksextremistischen Szene werden rund 32.200 Mitglieder zugerechnet; 6.800 davon gelten als gewaltbereit
  • Die 29 in Deutschland aktiven islamistischen Organisationen haben 37.370 Mitglieder und Anhänger, die übrigen extremistischen ausländischen Organisationen 24.910 Mitglieder

Den Verfassungsschutzbericht im Volltext erhalten Sie hier (PDF-Dokument, 2,2 MB).

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