Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

Kultur

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14. Juni 2012

Rachel Salamander über Brüche

von Eva-Elisabeth Fischer, erschienen in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 9./10. Juni 2012Rachel Salamander sitzt in ihrem ebenerdigen Büroschlauch im Zentrum Münchens. Vom Ladenlokal schaut man auf die Rückseite eines Klosters. Gleich um die Ecke, im Jüdischen Museum, befindet sich das Hauptgeschäft ihrer gut verzweigten „Literaturhandlung“ – die Früchte ihrer Arbeit in 30 Jahren. Jetzt schaut sie zurück auf die sechs Jahrzehnte ihres reichlich bewegten Lebens, antwortet bedächtig, aber wortreich und sehr dezidiert.

SZ: Ihr Telefon steht ja wirklich überhaupt nicht still . . .
Rachel Salamander: Ich bin gerade dabei, die Veranstaltung für das Jubiläum unserer Literaturhandlung vorzubereiten. Da ist viel los.

Ihre Literaturhandlung ist eine auf jüdische Literatur – und solche zum Judentum – spezialisierte Buchhandlung in München. Für wen haben Sie sie vor dreißig Jahren gegründet?
Für Leute wie mich. Sie müssen wissen, dass wir Juden nach dem Krieg völlig von unserer Kultur abgeschnitten waren. Ich bin in Föhrenwald, einem Lager für Displaced Persons, ohne Lehrbücher und ohne Literatur aufgewachsen. Ich wollte einen Ort schaffen, an dem meine Leute auf Literatur zum Judentum zugreifen konnten. Die Literaturhandlung war Anfang der 80er Jahre die erste Buchhandlung, in der all das,was ein jüdischer Haushalt braucht, angeboten wurde. Gleichzeitig wollte ich deutschen Lesern Judentum aus jüdischer Perspektive zugänglich machen.

Welche Bilder, welche Klänge, welche Gerüche verbinden Sie mit dem DP-Lager Föhrenwald?
Meine sinnlichen Eindrücke wechseln in der Erinnerung ganz stark mit den Jahreszeiten. Im Winter sehe ich alles eiskalt und weiß, die schneebedeckten Hügel rundum. Im Sommer ein Paradies, draußen sitzen, draußen essen und herumtollen. Nie haben die Gurkenbrote köstlicher geschmeckt als im Sommer in Föhrenwald.

Kürzlich waren Sie bei einem Dreh dort. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie den Wegweiser für einen Ort namens Waldramsehen – so heißt Föhrenwald seit seiner Auflösung 1957?
Das ist die Härte der Geschichte. Das Frühere wird überdeckt, der Vergessenheit anheim gegeben. Im Großen gilt das insgesamt für die deutsch-jüdische Kultur. So gibt es in München kaum mehr Spuren vergangenen jüdischen Lebens.

Sie sind im dortigen Lager in eine geschlossene Gesellschaft hineingewachsen. Haben Sie überhaupt ein Außen wahrgenommen?
Die Menschen, mit denen ich da aufgewachsen bin, waren ja alles Gezeichnete, die ein Stück Vernichtung in sich trugen. Aus verständlichen Gründen haben sie sich völlig isoliert, sie haben abgeschottet von den Nicht-Juden, den Deutschen, gelebt. Die Föhrenwalder bildeten eine Art autarkes, exterritoriales Gebilde. Wir wussten als Kinder ganz genau: Da draußen leben unsere Feinde. Der Austauschmit der deutschen Bevölkerung hat sich auf das Nötigste beschränkt.

1956 sind Sie in eine deutsche Schule gekommen, mussten erst einmal Deutsch lernen, weil Sie nur Jiddisch sprachen. Das war ja eine massive Veränderung, nicht wahr?
Es war eher ein Bruch. Veränderung ist ja ein Prozess, bei dem das Neue sich leicht mit dem Vorhergehenden verbinden lässt. Von außenmag es so aussehen, als wären wir nur vom Land in die Stadt gezogen. Tatsächlich aber wurde eine Gruppe von Trauernden und Entwurzelten über die Stadt verstreut.

Vor allem waren Sie ja keine homogene, gewachsene Gemeinschaft.
DieDPswaren ein aus verschiedenen osteuropäischenLändern zusammengewürfelter Haufen.

Was war das vorherrschende Gefühl, als Sie nach München kamen?
Ich fühlte mich völlig fremd in der Stadt. Alles, was in Föhrenwald war, galt in München nichtmehr. In Föhrenwald hatte ich nie Hochhäuser von vier Stockwerken oder gepflasterte Gehsteige gesehen, geschweige denn Straßenbahnen. Für mich war das der Beginn eines Lebens in zwei Welten, in der jüdischen Welt, die für mich allen Widrigkeiten zum Trotz Geborgenheit bedeutete, und der fremden Welt, die ich nur langsam zu verstehen lernte. Jeder Deutsche wusste, dass wir Juden sind. Aber wir wussten nie, mit wem wir es zu tun hatten,welche Geschichte im Dritten Reich hinter jemandem lag. Bei den Deutschen stieß ich auf Schweigen. Bis zu meinem Studium habe ich mich wohl oder übel auf diese zwei Welten eingerichtet. Es gab allerdings auch Ausnahmen: Mit einigen Schulfreundinnen fing ich ein Leben zwischen denWelten an.

Wie konnten Sie das aushalten?
Dazu fällt mir ein Satz von Franz Kafka ein. In den Briefen anMilena schreibt er: ,Nichts ist mir geschenkt, alles muss erworbenwerden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas, das doch jeder Mensch vielleichtmitbekommen hat. ‘Eigentlich hatte ich nicht einmal eine Vergangenheit mitbekommen, denn die war ja zerstört. Eine intakte jüdische Welt habe ich nie gekannt.

Mit der neuen Welt ging auch das Jiddische verloren, oder?
Die Literaturhandlung war die Rekonstruktion dessen, was der Vernichtung vorausging. Das wurde zu meiner Lebensaufgabe. Alles, was sich in Schrift und Wort vom jüdischen Geist und Leben erhalten hatte, wollte ich zusammentragen. Ich habe versucht, alle, die vertrieben und ermordet wurden, wieder einzubürgern und dem Jüdischen in Deutschland eine Präsenz zu geben.

Wie haben Sie denWechsel von der jiddischen zur deutschen Sprache erlebt?
Mit dem Eintauchen in dasMünchner Leben ging allmählich das Jiddische verloren. Ich empfinde große Loyalität mit denMenschen, mit denen ich aufgewachsen bin. Mit demVerschwinden dieserGeneration ist auch der Kontext verloren gegangen, in dem ich Jiddisch sprechen konnte. Jiddisch ist meine Muttersprache, die ich nur noch selten praktiziere, aber nie aufgeben will. Mit dem Verschwinden des Jiddischen geht für mich eine Gefühlswelt, gehen Witz und Lebensweisheit dahin, wie sie immerhin in der jiddischen Literatur erhalten geblieben sind. Der Staat Israel hat zugunsten des Hebräischen auf Jiddisch als die Sprache der Holocaust-Opfer verzichtet. Das bedauere ich sehr.

Der stehende Satz jüdischer Eltern lautete: Was man im Kopf hat, kann man dir nicht wegnehmen. Haben Sie diesen Satz auch zu hören bekommen?
In Föhrenwald war ich eines der wenigen Kinder, das von einem deutschen Lehrer Geigenunterricht bekam. Mein Vater bestand darauf, dass ich ein Instrument lerne. Sein Mandolinenspiel hatte ihm geholfen, in den sowjetischen Arbeitslagern zu überleben. Ganz im Sinne der jüdischen Tradition hat mein Vater darauf gedrungen, dass wir lernen, lernen, lernen.

Was haben Sie daraus gemacht?
Ich ging auf die Universität. Nach dem Umzug von Föhrenwald nach München der zweite große Einschnitt in meinemLeben. Ich studierte Germanistik. Allein der Name Ger-man-istik löste Assoziationen von Germanentum aus und ist bei meinen jüdischen Leuten nicht gerade mit Applaus bedacht worden. Sie stammten ja vorwiegend aus Polen und der Ukraine und hatten mit der deutschen Kultur nichts am Hut. Ich hingegen wollte wissen, was Deutschland ist, seine Sprache und Literatur entdecken, wollte wissen, wo ich lebe. Das heißt, ich musste mir auch die deutsche Vergangenheit aneignen. Eine doppelte Vergangenheit aufzuholen, ist ein lebenslanger Prozess. Ich warwohl die erste Jüdin nach demKrieg, die in Germanistik promoviert wurde.

Verlangte das Studium von Ihnen nicht eine große Bereitschaft zur Anpassung?
Es ist mir in Föhrenwald nicht gesungen worden, mich mit Walther von der Vogelweide und Paul Celan oder mit Kant und Hegel zu beschäftigen, geschweige denn, mich später am deutschen literarischen Leben zu beteiligen. Ich habe mich mit deutscher Literatur und Philosophie befasst, ohne das Jüdische zu vernachlässigen. Eigentlich wollte ich eine vergleichende Arbeit über Jiddisch und Mittelhochdeutsch schreiben, nur fand sich zu dieser Zeit keinProfessor,der siehätte abnehmen können.

Als Sie 1982 die Literaturhandlung gründeten, war da die Zeit in Deutschland schon reif dafür?
Man kann jüdisches Leben in Deutschland nicht verstehen, wenn man die Bundesrepublik nicht in den Blick nimmt und ihren Diskurs mit derNS-Vergangenheit. Da gibt es einmal die Generation meiner Eltern, für die die Existenz in Deutschland nur Provisorium sein sollte. Damals lebten Täter und Opfer zur gleichen Zeit. Die Bundesrepublik musste Anerkennung und Respektabilität zurückgewinnen. Dabei spielte eine nicht geringe Rolle,
ob Juden überhaupt je wieder in Deutschland leben könnten. Der Umgang mit ihnenwurde entscheidend fürdieEntwicklung der Bundesrepublik zu einer westlichen demokratischen Gesellschaft. Für die Generation meiner Eltern bedeutete das, von Israel oder der jüdischen Community in Amerika dafür verachtet zuwerden, dassman sichauf eineKoexistenz mit den Deutschen einließ. In dieser Verlegenheit zögerten sie, öffentlich in Erscheinung
zu treten.

War das nicht ein hoher Preis?
Wir sind in der Bundesrepublik groß geworden. Mit uns fing eine neue Phase jüdischen Lebens in Deutschland an. Zu Beginn der 80er-Jahre meldeten sich jüdische Stimmen zu Wort und mischten sich anders als unsere Eltern in öffentliche Debatten ein. Wissend, dass wir hier leben,wolltenwir unser Leben selbst bestimmen. Als zweite Generation mussten wir die Herausforderung annehmen, zusammen mit Deutschen eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit anzugehen. Dieses Engagement hatte eben seinen Preis.

Worin bestand er?
Zu den Eigenheiten der sogenannten Aufarbeitung gehörte, dass viele Deutsche, deren Biografie durch das Dritte Reich kompromittiert war, durch die fortschreitende Erforschung derNS-Geschichte gezwungen wurden, ihre eigenen Lebensgeschichten, die sie nach 1945 erzählt hatten, zu korrigieren. Dabei ging es oft nicht mit rechten Dingen zu, was uns auf der jüdischen Seite in die unangenehme Lage brachte, Aufrichtigkeit einfordern zu müssen, ja wie Schnüffler aufzutreten.

Meinen Sie nicht, dass Sie von den 68ern da ganz schön Kontra bekommen würden? Denn die hatten es sich ja auf ihre Fahnen geschrieben, die Vergangenheit ihrer Väter aufzuarbeiten.
Vorsicht vor Pauschalurteilen! Was heute die 68er angeht, handelt es sich um eine komplexe Realität. Die meisten beschränkten sich auf Antifaschismus, einige deckten die NS-Vergangenheit ihrer Professoren auf, andere forschten weiter und legten erst Jahrzehnte später den ganzen Komplex familiärer Prägung durch den Nationalsozialismus bloß.

Welche Erfahrungen haben Sie denn persönlich mit den 68ern gemacht?
Als ich 1969 zu studieren begann, hatte sich die Studentenbewegung in marxistischen Zirkeln organisiert. In den AKGruppen, in denen ich die Schriften von Marx studierte, kames früher oder später unvermeidlich zum Streit, wenn es um Israel ging. Mich irritierten die falschenVergleiche: wie etwa die Parole, dass die Israelis die Palästinenser behandeln würden wie einst die Nazis die Juden. Dabei überkam mich leider schnell der Verdacht, hier wolle man sich auf Kosten Israels von den Lasten der jüngsten deutschen Vergangenheit befreien.

70 Prozent aller Deutschen kritisieren Israel und sprechen dem Judenstaat indirekt seine Existenzberechtigung ab. Eine späte Rache?
Bei statistischen Umfragen bin ich immer verblüffungsresistent. Was man da als Volksmeinung präsentiert, entspricht ja genau dem, was Nahostkorrespondenten und die Schar der Autoren populär-wissenschaftlicher
Bücher verbreiten. Was das Urteilsvermögen dieser Israelmiesmacher anlangt, frage ich mich, wieweit das kompetent ist und ob da nicht vielmehr unverdaute, unbewältigte Ressentiments seit 1945 durchschlagen.

Rachel Salamander wurde am 30. Januar 1949 im DP-Lager Deggendorf als Tochter von Ostjuden geboren. Ihre frühe Kindheit verbrachte sie im DP-Lager Föhrenwald. Schule und Studiumabsolvierte sie in
München, wo sie auch lebt und im Herbst 1982 die Literaturhandlung gründete. In vielen Veranstaltungen gelang es ihr , jüdische Kultur über Münchens Grenzen hinaus neu zu beleben. Sie ist zudem Herausgeberin der Literarischen Welt.

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Aktuelle Veranstaltungen


Mi. 19.06.2024 | 13. Siwan 5784

Kultur

Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant und die Erziehung des Menschengeschlechts

Beginn 19:00

Vortrag von R. Prof. emer. Dr. Dr. h.c. Daniel Krochmalnik
Ein Beitrag der Reihe „Die Umkehr des Denkens. 300 Jahre Immanuel Kant“

Mittwoch, 19. Juni 2024, 19 Uhr

Anfang der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts erscheinen in dichter Folge drei grundlegende Texte: „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ von Gotthold Ephraim Lessing (1780), „Jerusalem oder Religiöse Macht und Judentum“ von Moses Mendelssohn (1783) und „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von Immanuel Kant (1784). Darin behandelt das Dreigestirn der deutschen Aufklärung das Problem des Fortschritts der Menschheit. Lessing ist davon überzeugt, Mendelssohn ist skeptisch, Kant formuliert die Bedingungen der Möglichkeit. Die Verfasser nehmen auch Bezug aufeinander und ihr kontroverses Gespräch ist für die Geschichtsphilosophie bis heute von grundlegender Bedeutung. Weiterlesen »

Mi. 26.06.2024 | 20. Siwan 5784

Kultur

„Was habe ich mit Juden gemeinsam?“ – Franz Kafkas Identitäten

Beginn 19:00

Reiner Stach in Zwiesprache mit Franz Kafka
Ein Beitrag zum 100. Todestag von Franz Kafka (1883 – 1924)

Mittwoch, 26. Juni 2024, 19 Uhr

Kafkas Werke beschreiben eine Welt, in der nichts verlässlich ist, in der sich Ordnung immerzu auflöst und das Vertrauteste plötzlich fremd werden kann. Wir wissen heute, dass dies keine Vision war, sondern gelebte Erfahrung. Kafka wuchs auf in einem Spannungsfeld zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen orthodoxem, liberalem und zionistisch gesinntem Judentum, in dem die Frage der Identität fortwährend neu verhandelt wurde. Hinzu trat eine unglückliche familiäre Konstellation, die Kafka in die Rolle eines sozialen Zaungasts drängte. Gibt es überhaupt eine menschliche Gemeinschaft, so fragte er sich, zu der ich im tiefsten Sinn des Wortes „gehöre“? Weiterlesen »

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