Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

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18. Januar 2018

Neuanfang mit 78

Fruma und Lew Saposchnikow leben seit 20 Jahren in München. Ein Porträt von Helmut Reister, erschienen in der Jüdischen Allgemeinen vom 18. Januar 2018.

Es ist erst wenige Monate her, da feierte die Israelitische Kultusgemeinde einen Erfolg, der zugleich die größte Herausforderung der letzten Jahrzehnte darstellt: die Integration der vielen jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Die ersten Neubürger aus dem Osten Europas kamen vor 25 Jahren in München an, Tausende folgten. Auch Lew Saposchnikow und Ehefrau Fruma zählen dazu.

»Ausgerechnet ins Land der Täter?«: Fruma und Lew Saposchnikow aus Charkow, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. © Marina Maisel

»Ausgerechnet ins Land der Täter?«: Fruma und Lew Saposchnikow aus Charkow, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. © Marina Maisel

 

Mit der Vorstellung, in Deutschland zu leben, konnte sich das Ehepaar aus Charkow lange Zeit nicht anfreunden. Deutschland war für sie in erster Linie das »Land der Täter«. Lew Saposchnikow muss nur an die Gewehrkugel denken, die noch immer in seinem Körper steckt, aber glücklicherweise vom Herzen wieder ein Stück weg gewandert ist. Nur wenn Röntgenaufnahmen von ihm gemacht werden sollen, gibt es Erklärungsbedarf wegen des Metalls in seinem Körper. Viermal ist er im Krieg gegen die Nazis verwundet worden. Das hinterlässt nicht nur körperliche Spuren.

Erinnerungen an die Sowjetunion: Lew kämpfte in der Roten Armee gegen Hitler und wurde für seine Tapferkeit ausgezeichnet. © Marina Maisel

Erinnerungen an die Sowjetunion: Lew kämpfte in der Roten Armee gegen Hitler und wurde für seine Tapferkeit ausgezeichnet. © Marina Maisel

 

Familie hat für die jüdischen Eheleute, die beide das 95. Lebensjahr bereits überschritten haben, vor allem deshalb eine immense Bedeutung, weil viele aus ihren Familien während des Zweiten Weltkriegs umkamen. Deshalb sind sie im Jahr 2000 auch ihrem Sohn gefolgt, der in den Ländern der zerfallenen Sowjetunion keine Perspektive mehr sah und in München landete – ein Neuanfang mit 78 Jahren.

In Neuperlach leben sie in einer kleinen Wohnung, sind bescheiden und so zufrieden, wie es mit den altersbedingten Beschwernissen eben geht. Ihre Mobilität ist inzwischen stark eingeschränkt, sie können die Wohnung nicht verlassen und sind auf Betreuung angewiesen. Trotzdem ist Fruma die »Herrin« im Haus, hat den Überblick im Haushalt und weiß sofort, wenn Mehl oder Zucker fehlt. Hohe Ansprüche haben sie und ihr Mann ohnehin nicht. Immerhin bekommt Fruma auch vom deutschen Staat eine kleine Rente, die sie sich allerdings nicht freiwillig erworben hat. Sie war während des Krieges nach Leipzig deportiert worden und musste als Zwangsarbeiterin schuften.

Ein Herz und eine Seele: Fruma und Lew Saposchnikow nach dem Zweiten Weltkrieg © privat

Ein Herz und eine Seele: Fruma und Lew Saposchnikow nach dem Zweiten Weltkrieg © privat

 

Ein dreiviertel Jahrhundert später haben die Eheleute in ihrer Wohnung Besuch. Ella Vinogradova vom Vorstand des IKG-Veteranenrats und Nelea Hohlovkina, Holocaust-Überlebende und Vorsitzende des Vereins »Phoenix aus der Asche«, schauen regelmäßig bei den beiden vorbei und halten so den Kontakt zur »Außenwelt« aufrecht. Die Besuche haben für Lew und Fruma Saposchnikow schon allein deshalb einen hohen Stellenwert in ihrem Leben, weil sie selbst nicht mehr allzu mobil sind. Speziell für Lew Saposchnikow waren die Treffen mit russischen Veteranen immer ein hochwillkommenes Erlebnis.

Integration

Als das Ehepaar im Jahr 2000 nach München kam, war die IKG eine zentrale Anlaufstelle. Sie profitierten davon, dass sich die jüdische Gemeinde auf die enorme Zahl der Einwanderer, die Anfang der 90er-Jahre einsetzte, eingestellt und bereits ein Hilfsnetz aufgebaut hatte, das von der Sozialabteilung unter der Leitung von Olga Albrandt organisiert wird und aus zahllosen freiwilligen Helfern besteht.

»Ganz am Anfang der Zuwanderung«, erinnert sich IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch nur allzu gut, »standen wir vor einer enormen Herausforderung. Wir hatten für diese Entwicklung weder Infrastruktur noch finanzielle Mittel und mussten uns erst mit den speziellen Bedürfnissen und anstehenden Maßnahmen auseinandersetzen. Ich denke aber, dass uns das zeitnah und gut gelungen ist, auch dank der Hilfe der öffentlichen Hand.«

Ein Beispiel für gelungene Integration ist mit Vizepräsident Ariel Kligman auch in der IKG-Führung selbst zu finden. Er kam bereits 1992 nach Deutschland und war danach schnell eines der aktivsten Gemeindemitglieder bei der Bewältigung der Zuwanderung. Die IKG, deren Vorstand er seit fast 20 Jahren angehört, setzte ihn als Flüchtlingsbeauftragten ein. »Das war eine sehr gute Personalentscheidung«, blickt Charlotte Knobloch zufrieden zurück. Aber ihr ist auch klar: »Ohne die vielen freiwilligen Helfer hätten wir die Aufgabe in dieser Form nicht bewältigen können.«

Freude

Die vielen jüdischen Zuwanderer haben das Gesicht und die Strukturen der IKG schon allein durch ihre Anzahl verändert. Die Gemeinde zählt inzwischen fast doppelt so viele Mitglieder wie vor 30 Jahren. Für die IKG-Präsidentin ist in diesem Zusammenhang noch ein anderer Aspekt von Bedeutung: »Inzwischen erleben wir die zweite und dritte Generation, junge Menschen, die hier geboren wurden und bereits voll in die Gesellschaft integriert sind. Das erfüllt mich mit Freude, da wir ja unseren Teil dazu beigetragen haben. Diese jungen Menschen sind unsere Zukunft.«

Für Lew und Fruma Saposchnikow ist die irdische Zukunft nicht mehr von so großer Bedeutung wie für junge Menschen. Aber für die haben sie einen guten Rat parat, der auch ihre eigene Beziehung mittlerweile 72 Jahre zusammenhält. »Man muss viel Geduld haben, dann funktioniert es auch«, sind sie fest überzeugt.

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