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5. März 2012

Neonazis in Bayern: Aufmarsch des Stumpfsinns

Von Katja Auer, Welt am Sonntag, 4. März 2012. Bayerns Neonazis  treten immer selbstbewusster öffentlich auf. Darüber ist nun ein politischer Streit entbrannt.
Nein, Neonazis hat sie noch keine getroffen, erzählt das Mädchen, und eigentlich sei ihr auch gar nicht bewusst gewesen, „dass das so nah ist“. Bis zu ihrem Besuch in Gräfenberg. Da war die Klasse 10 c des Christian-Jacob-Treu-Gymnasiums aus Lauf gerade, und dort sind die jungen Leute die Strecke abgelaufen, auf der die Rechtsextremisten immer marschiert sind. Gräfenberg, der kleine Ort in der Fränkischen Schweiz, der beinahe schon zum Symbol dafür geworden ist, wie sich Bürger wehren gegen die Bedrohung von rechts.

Jahrelang ist das Städtchen von Rechtsextremisten heimgesucht worden, und jahrelang haben sich die Gräfenberger ihnen in den Weg gestellt. Bis die Neonazis weggeblieben sind. Die Schüler hat das beeindruckt. Jetzt wisse sie, dass es Neonazis auch in der Nähe gebe, sagt die Schülerin. Sie sagt das Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, der nach Vorra in Mittelfranken gekommen ist, wo sich die Klasse eine Woche lang mit Extremismus beschäftigt.

Das Thema ist ungewollt aktuell

Das Seminar war lang geplant, das Wertebündnis Bayern will so etwas nun öfter veranstalten, aber das Thema ist ungewollt aktuell. Der Rechtsextremismus ist wieder konkret geworden in Deutschland und in Bayern, seit bekannt geworden ist, dass die Mordserie an Türken in Deutschland von der Zwickauer Terrorzelle verübt wurde, vom sogenannten Nationalistischen Untergrund (NSU). Von Rechtsextremisten.

Am 29. Februar 2o12 hat die Polizei bei einer Razzia in Regensburg und in Niederbayern mit einem enormen Personalaufgebot 59 Häuser durchsucht und dabei ein Waffenarsenal sichergestellt, mit dem sich ein kleiner Krieg hätte anzetteln lassen. 200 Schusswaffen, Munition, eine Abschussvorrichtung für eine Panzerfaust. Sechs Personen wurden festgenommen, vier davon gehören der rechtsextremen Szene an. „Dieser große Erfolg zeigt, dass wir mit aller Entschlossenheit gegen Kriminalität und insbesondere Rechtsextremisten sowie Angehörige aus dem Rockermilieu vorgehen“, teilte Herrmann mit.

Unglaublich schwerfällig

Zum Ärger der Opposition. „Unglaublich schwerfällig“ sei der Innenminister, wenn es um das Thema Rechtsextremismus geht, sagte Helga Schmitt-Bussinger, die innenpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion. Sie frage sich, ob Herrmann den Ernst der Lage überhaupt erkannt habe. Die SPD will nun die Neonazis entwaffnen und all jenen den Waffenschein entziehen, „die aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer rechtsextremen Partei oder Organisation oder ihres Verhaltens als unzuverlässige Waffenbesitzer zu bewerten sind“. Die politische Debatte ist wieder voll entbrannt.

Die Regensburger Razzia will Herrmann in keinen Zusammenhang stellen mit der erhöhten Aktivität der Neonazis in Bayern. Die jedoch gibt es, seit die Zwickauer Terrorzelle aufgeflogen ist. „Man kann schon feststellen, dass sie sich seit der Aufdeckung der Mörder nicht verkriechen oder schämen, sondern dass sie eher dreister werden“, sagt der Minister. Mehr Rechtsextremisten seien es aber wohl nicht geworden. „Es sind die unterwegs, von denen wir wissen, dass es sie gibt“, sagt Herrmann.

„Freies Netz Süd“: Radikalisierung im Eiltempo

Und sie zeigen sich. In Nürnberg stand kürzlich ein bekannter Neonazi im Hof des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung, das sich mit Holocaustforschung und Neonazismus beschäftigt. Ein Nationalist habe der Vorsitzenden einen Hausbesuch abgestattet, heißt es auf der Internetseite der Kameradschaft „Freies Netz Süd“, wo sich noch allerlei andere Aktivitäten verfolgen lassen. In Halsbach im Landkreis Altötting wollen die Neonazis ein Zentrum aufbauen, einen Treffpunkt für „Patrioten aus Deutschland und Österreich“. 80 Rechtsextremisten kamen Mitte Februar in den Gasthof Gruber, wo von 2007 an immer wieder Treffen stattfanden. Nun gab es ein Konzert mit der Lunikoff Verschwörung, deren Frontmann wegen seiner radikalen Texte bereits mehrere Jahre im Gefängnis saß. Und so weiter. Immer mehr solcher Nachrichten gab es in den vergangenen zwei Monaten. In Landshut marschierten Neonazis, in Forchheim; in Pegnitz hielten sie eine Gedenkveranstaltung am Kriegerdenkmal ab, in Oberprex hat einer von ihnen ein Wirtshaus gekauft.

Vor ein paar Tagen mussten 100 Flüchtlinge mitten in der Nacht ein Lager in Deggendorf verlassen, weil eine anonyme Bombendrohung eingegangen war. Frauen und Kinder wurden in einer Diskothek untergebracht, so berichtet es der Bayerische Flüchtlingsrat, die Männer mussten trotz der Kälte auf der Straße warten. Nach zweieinhalb Stunden konnten die Menschen wieder in ihre Zimmer zurück, eine Bombe wurde nicht gefunden. Ob es Rechtsextremisten waren, die die Flüchtlinge aufschrecken wollten, ist bisher nicht bekannt. Der Flüchtlingsrat vermutet das, da das Freie Netz Süd immer wieder gegen Flüchtlinge und die Lager in Niederbayern hetze. Zudem habe die NPD tags zuvor ihren politischen Aschermittwoch in Deggendorf abgehalten, „ein Zusammenhang damit erscheint nicht abwegig“.

NPD frisst Kreide

Tatsächlich? Gehen NPD und Kameradschaften miteinander in die Offensive? Das sei momentan schwer zu erkennen, „deswegen hat die Szene eine gewisse Unberechenbarkeit“, sagt Martin Becher von der Projektstelle gegen Rechtsextremismus in Bad Alexandersbad, der zugleich Geschäftsführer ist des Bayerischen Bündnisses für Toleranz. Zwei Varianten seien denkbar: Die eine sei, dass sich führende Kräfte in der NPD nach den Morden der Zwickauer Terrorzelle von den radikalen Neonazis distanzierten, weil sie ihren Parteistatus behalten wollten. Dann würden wohl die Kameradschaften wie das Freie Netz Süd in die Opposition dazu gehen, um mit ihren Aktivitäten die internen Kräfte zu binden. In diesem Fall komme es zum Spagat, analysiert Becher. Im anderen Fall, dass nämlich die NPD tatsächlich der politische Arm der Kameradschaften sei, wäre die Partei das Stand-, die Kameradschaften wären das Spielbein. Unübersichtlich sei die Gemengelage und komplex, „aber auf jeden Fall ist ganz viel Energie da“, sagt Becher.

Dass die Neonazis großen Zulauf haben in Bayern, glaubt er nicht. „Die Gefahr ist nicht zu unterschätzen, aber sie hat sich in der Quantität nicht verändert“, sagt er. Um die 1000 Rechtsextremisten gebe es nach wie vor im Freistaat. Nach der Kriminalstatistik des Innenministeriums ist die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten in den vergangenen Jahren sogar rückläufig. Nun tauchen viele wieder auf, um die es eine Weile ruhig war.

Gefallen lassen wollen sich die Leute den Auftrieb der Neonazis nicht. In Halsbach, dem 900-Einwohner-Dorf, sind 500 Menschen auf die Straße gegangen, als die Rechtsextremisten zum Konzert anreisten. In Regensburg haben sich die Wirte zur Initiative „Keine Bedienung für Nazis“ zusammengeschlossen, nachdem ein Wirt von einem Neonazi überfallen worden war. Und Innenminister Herrmann betont, dass es keine falsche Toleranz geben werde und „wir auch bei Kleinigkeiten hinschauen“. „Wir müssen den Aufstand der Anständigen und der Zuständigen verbinden“, sagt Martin Becher. Er empfiehlt, gegen die Rechtsextremisten zu demonstrieren, „einfach weil klar sein muss, dass sich die Leute für eine bunte Gesellschaft und für Demokratie einsetzen“, sagt er.

Es geht noch um den Verfassungsschutz bei der Klasse in Vorra und um die Frage, ob es tatsächlich sinnvoll sei, die NPD zu verbieten. Ja, meint der Innenminister. Und will wissen, wie denn die Schüler selbst die Gefahr durch den Rechtsextremismus einschätzten. „Ich persönlich habe da auch keine Erfahrung“, sagt ein junger Mann in der ersten Reihe, „aber ich finde, dass man sich dafür interessieren sollte.“

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