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27. September 2012

Im virtuellen braunen Sumpf – Rechtsextremismus im Internet

Von Andreas Nefzger, erschienen auf Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 27.09.2012. Die rechte Szene nutzt soziale Netzwerke für die Suche nach Nachwuchs. Das geschieht bisweilen subtil. Die Gruppe no-nazi.net klärt Jugendliche auf und wappnet sie für die Diskussion.

Johannes Baldauf hat eine ganze Handvoll Profile bei Facebook. Besonders aktiv ist er gerade mit einem Rechtspopulisten und einem Verschwörungstheoretiker. Beides liegt Baldauf, 31 Jahre alt und studierter Literaturwissenschaftler, in seinem echten Leben fern. Mit den Profilen will er herausfinden, wie sich die rechte Szene im Internet organisiert. Baldauf ist gewissermaßen ein Spion.

Seine verdeckten Ermittlungen stellt Baldauf für das Projekt no-nazi.net an. Die Initiative der Amadeu Antonio Stiftung ist seit November vergangenen Jahres online. Sie betreibt ein eigenes Blog und Gruppen in den wichtigen sozialen Netzwerken, etwa Facebook, Schüler-VZ, Google Plus oder Wer-kennt-wen. Ziel der Initiative ist es, Informationen über die Umtriebe der rechtsextremen Szene in sozialen Netzwerken zu sammeln und Jugendliche über die Gefahren aufzuklären.

Drei Mann gehören zum festen Team, das in einem schmalen Dachgeschoss-Büro in Berlin-Mitte sitzt: Projektleiterin Anna Groß, welche die Communities pflegt, Öffentlichkeitsreferentin Simone Rafael und Johannes Baldauf, der für die Internetrecherche zuständig ist, oder wie er es nennt: das Monitoring.

Den Klischees auf der Spur

Mit seinen falschen Profilen schließt Baldauf Freundschaft mit Menschen aus der Szene und findet Zugang zu einschlägigen Gruppen. Diese sind meist geschlossen, die Inhalte und Diskussionen also nur für einen ausgesuchten Personenkreis sichtbar. Um aufgenommen zu werden, muss Baldauf mit seinem Profilen den Eindruck erwecken, als gehöre er zur Szene.

Sein Rechtspopulist kommt aus einer ostdeutschen Stadt und mag neben den Fernsehsendungen, Büchern oder Bands, die viele junge Männer schätzen, auch szenetypische Künstler und Autoren, Thilo Sarrazin etwa. Sein Verschwörungstheoretiker gibt kaum Persönliches preis – weil er sich um seine Daten sorgt – und mag zum Beispiel Dan Brown. „Man muss in Klischees denken“, sagt Baldauf.

Baldaufs Interesse für rechtspopulistische Umtriebe ist offensichtlich, bieten Themen wie Islam-Feindlichkeit und Euro-Skepsis doch gute Anknüpfungspunkte für völkisches Gedankengut. Aber warum befasst er sich mit Verschwörungstheorien? Während Baldauf über Seiten scrollt, die zu wissen glauben, was am 11. September 2001 tatsächlich geschah, oder behaupten, dass die Kondensstreifen von Flugzeugen Chemikalien enthalten, welche die Menschheit zu willenlosen Zombies machen sollen, sagt er: „Das läuft fast immer auf die ’jüdische Weltverschwörung’ hinaus und wird genutzt, um Antisemitismus hoffähig zu machen.“

Der kurze Weg von Facebook zur Straße

Baldauf und seine Kollegen fanden zuletzt immer häufiger Inhalte, die sie für bedenklich halten. Die rechtsextreme Szene habe in den vergangenen Jahren die sozialen Netzwerke als Instrument für die Rekrutierung von Nachwuchs für sich entdeckt und ihre Aktivitäten stark ausgebaut, sagt Projektleiterin Anna Groß: „Die haben gelernt, dass man dort mehr Menschen erreicht als mit einem Info-Stand auf dem Marktplatz.“ Der zunächst virtuelle Kontakt muss nach den Erfahrungen von no-nazi.net dabei aber keinesfalls virtuell bleiben. „Viele junge Menschen steigen über das Internet in die rechte Szene ein, davon geht eine ganz reale Gefahr aus.“

Dass der Weg von der Facebook-Freundschaft mit einem Rechtsextremen zu politischen Aktionen auf der Straße kurz sein kann, hat die Initiative mit „Sandy“ herausgefunden, einem ihrer falschen Profile. Sandy war junge Mutter, mochte auf Facebook eine rechtsextreme Liedermacherin und sendete Freundschaftsanfragen an andere Mütter aus der Szene.

Bald schon brauchte sich Sandy nicht mehr um neue Freunde zu bemühen – sie kamen von allein. Ebenso die Einladungen zum „Protest gegen die Einebnung des Grabes von Rudolf Heß“ oder zu Veranstaltungen des Rings Nationaler Frauen. So erzählt es Simone Rafael, die sich bei Facebook als Sandy ausgab. „Das zeugt davon, dass hier aktiv und professionell auf Nachwuchssuche gegangen wird.“

Geschickte Werbung mit unverfänglichen Themen

Allzu lange währte Sandys Spionin-Dasein jedoch nicht. Zweimal wurde sie von Facebook gelöscht, weil sie ihre politische Einstellung wohl etwas zu deutlich nach außen trug. Gegen offensichtlichen Extremismus funktionieren die facebookeigenen Abwehrmechanismen recht gut. Ganze Gruppen haben sich gegründet, um in dem Netzwerk nach Neonazis zu suchen und deren Löschung zu erwirken. Dementsprechend geht es den Betreibern von no-nazi.net auch nicht um den User, der ein Bild von Adolf Hitler auf seine Seite lädt oder „Heil Hitler“ postet. Solche Nutzer seien ohnehin selten geworden, sagt Simone Rafael. „Die Nazis sind schlauer geworden, die wissen, was strafrechtlich relevant ist.“

Die Aktivitäten, die Simone Rafael, Anna Groß und Johannes Baldauf beunruhigen, sind sehr viel subtiler. Ihrer Erfahrung nach nutzen Neonazis scheinbar unverfängliche Themen, um mit den Nutzern sozialer Netzwerke in Kontakt zu treten und ihre Ideologie zu verbreiten. So etwa Kindesmissbrauch. Die Gruppe „Keine Gnade für Kinderschänder“ erreichte auf Facebook 70.000 „Gefällt mir“-Klicks. „Natürlich ist niemand für Kindesmissbrauch, deshalb klicken das ganz viele an“, sagt Anna Groß.

Allerdings verknüpften die Betreiber der Gruppe das Thema mit der Forderung nach Einführung der Todesstrafe und bewarben Aktionen der NPD. Facebook hat die Seite gelöscht. Jetzt gibt es eine Gruppe namens „Deutschland gegen Kindesmissbrauch“. Sie gefällt fast 15 000 Nutzern und hat erst vor Kurzem auf ein Musikvideo verlinkt, in dem eine Band die Todesstrafe für Kinderschänder fordert.

Regelmäßige Attacken aus dem Netz

Mit Löschen und Verbieten kommt man im Internet häufig eben nicht allzu weit. Ist die eine Gruppe verschwunden, taucht die nächste auf; ebenso verhält es sich bei Videos oder Profilen. Auch deshalb steht für die Betreiber von no-nazi.net die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund. Auf ihrem Blog schreiben sie Artikel, die sie dann über soziale Netzwerke verbreiten und dort mit den Nutzern diskutieren. Sie erklären, was Antisemitismus ist oder was die NPD unter „Volk“ und „Vaterland“ versteht; sie erläutern, warum Neonazis häufig Bertolt Brecht zitieren oder Ulrike Meinhof inspirierend finden; sie lassen die Nutzer in einem Quiz raten, welche scheinbar harmlosen Motive Rechtsextreme verwenden, um ihre Gesinnung auszudrücken.

Der spielerische und leicht verständliche Zugang ist beabsichtigt, das Angebot richtet sich explizit an Teenager. Diesen sollten nicht nur die Gefahren bewusst gemacht, sondern auch Handwerkszeug beigebracht werden, mit dem sie sich der Diskussion mit Rechtsextremen stellen könnten, sagt Anna Groß. „Es bringt nichts, solche Inhalte zu ignorieren, wir wollen die Jugendlichen ermutigen, sich der Diskussion zu stellen.“

Damit macht sich no-nazi.net im Internet natürlich nicht nur Freunde. Regelmäßig wird die Initiative Ziel eines sogenannten Shitstorms, also einer Flut unsachlicher Kommentare. Als der Blog neulich einen Artikel über den völkischen Gedanken hinter dem Familienbild der NPD brachte, war es wieder so weit. In kürzester Zeit gingen mehr als 100 Kommentare auf der Facebook-Seite ein. „So etwas ist menschenverachtend, weil es gegen Volk und Rasse ist“, lautete einer davon. Die lakonische Antwort von no-nazi.net: „Hallo Nazis, ihr könnt jetzt aufhören hier zu spammen. Ich dokumentiere nur noch kurz alle eure Beiträge, bevor ich sie lösche und euch alle melde. Byebye!“

Ein Kommentar verschwindet

Aber ganz so humorvoll können die Betreiber von no-nazi.net nicht mit jeder Anfeindung umgehen. Fast jeden Tag kämen Drohungen per E-Mail, sagt Simone Rafael. Einmal sei sogar ein Foto mit dem Auto der Stiftung online gestellt worden, mit der Aufforderung, sich einmal darum zu kümmern. Das mahnt zur Vorsicht. Anna Groß sagt, sie achte genau darauf, dass keine Privatadresse und kein Bild von ihr im Internet zu finden sei. Um glaubwürdig zu bleiben, will die Initiative aber mit Klarnamen auftreten.

Außer beim Monitoring natürlich. Johannes Baldauf war heute für einige Zeit als Rechtspopulist in Facebook unterwegs. Einen großen Aufreger fand er dabei nicht, eher das Übliche: Hier ein junger Mann, der Bilder von sich in Kampfmontur hochgeladen hat, dort eine „88“ in der Kommentarspalte neben einem Foto – die Szene-Chiffre für „Heil Hitler“. So etwas archiviert Baldauf schon gar nicht mehr, er findet es fast jeden Tag. Aber hin und wieder stößt er noch auf Einträge, die selbst ihn überraschen.

Nicht ohne Stolz zeigt er die Seite eines jungen Mannes, der offenbar Mitglied bei einer gewaltbereiten rechtsextremen Gruppe ist und sich nicht scheut, dies mit Fotos zu belegen. Neulich fand Baldauf neben einem dieser Fotos einen Kommentar eines ranghohen NPD-Funktionärs. Jetzt, da er die Seite abermals besucht, ist der Kommentar zwar verschwunden. Aber Baldauf hat einen Screenshot davon auf seinem Rechner.

Link: no-nazi.net

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