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4. März 2013

Historiker: Nazis unterhielten mehr als 42.000 Gefängnisse

US-Forscher haben zusammengerechnet: Es gab im Zweiten Weltkrieg viermal so viele Ghettos und Haftstätten im besetzten Europa als bisher bekannt. Von hier aus wurden Millionen Menschen deportiert. Von Sven Felix Kellerhoff, erschienen auf Die Welt Online, 4.3.2013.
Allein die Zahl ist erschreckend: An mehr als 42.500 Orten im gesamten deutsch besetzten Europa waren zwischen 1939 und 1945 Menschen aus vermeintlich „rassischen“ oder „politischen“ Gründen eingesperrt, mussten Zwangsarbeit leisten, wurden gequält oder gleich systematisch ermordet.

Diese Zahl haben Wissenschaftler des Center for Advanced Holocaust Studies des US Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington D.C. festgestellt. Sie arbeiten seit mehr als zehn Jahren an einer neuen, auf sieben Bände angelegten Enzyklopädie des Holocaust. Bei einer Konferenz am Deutschen Historischen Institut in der US-Hauptstadt gaben sie die Zahl bekannt. Bisher gingen internationale Forscher von mehr als 10.000 Lagern im besetzten Europa aus.

Die große „Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ in neun Bänden unter dem Titel „Der Ort des Terrors“, die Wolfgang Benz (ehemals Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin) und Barbara Distel (ehemals Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau) herausgegeben und 2009 vollendet haben, hatte sich bei Ghettos und anderen Lagern auf exemplarische Beschreibung konzentriert: „Angesichts der riesigen Zahl all dieser Zwangslager, denen sich die historische Forschung erst zu widmen beginnt, wäre freilich der Anspruch auf vollständige Beschreibung von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen.“

Ein Werk für Fachbibliotheken

Das USHMM, das wahrscheinlich finanziell am besten ausgestattete historische Museum und Forschungsinstitut der Welt, kann genau diese Arbeit jedoch leisten. Die ersten beiden Bände der neuen Enzyklopädie der Lager und Haftstätten umfassen jeweils knapp unter oder knapp über 2000 Seiten. Entsprechend kostet jedes Exemplar 295 Dollar, es handelt sich also um Werke praktisch ausschließlich für wissenschaftliche Bibliotheken.

„Die meisten Menschen sind sich nicht bewusst über die Größe des Lagersystems der Nazis“, heißt es in der Einleitung zum ersten Band: „Hinter wohl bekannten Namen wie Auschwitz, Dachau, Treblinka und Warschau bestand ein unermesslichen Universum von Einrichtungen, grob geschätzt 30.000, die das Herz des NS-Regimes bildeten.“

Inzwischen sind die Forscher weitergekommen und konnten mehr als 10.000 weitere Lager, Ghettos oder ähnliche Orte identifizieren. Die neu entdeckten Orte sind allerdings, auch wenn die Detaildarstellung noch nicht vorliegt, fast ausnahmslos kleine Einrichtungen. Jede Fabrik, in der Zwangsarbeiter beschäftigt wurden und wenigstens zeitweise auch untergebracht waren, wurde einzeln gerechnet. Bislang unbekannte „große“ Ghettos dagegen sind bei den Recherchen der US-Forscher nicht entdeckt worden.

Die „Konzentration“ der jüdischen Bevölkerung in besonderen, oft abgesperrten und eingezäunten „Wohnbezirken“ begann schon wenige Monate nach der Eroberung Polens durch die Wehrmacht. Seit Ende 1939 mussten Juden in Polen Armbinden mit Davidstern tragen, knapp zwei Jahre vor der Einführung des berüchtigten „gelben Sterns“ für deutsche Juden.

Deportation nach Madagaskar?

Im Frühjahr 1940 begann dann die Einrichtung von Ghettos in fast allen Städten und größeren Dörfern des besetzten Polens, das „Generalgouvernement“ genannt wurde. Offizielles Ziel der deutschen Zivil- und Polizeiverwaltung war, die vermeintlich „destruktiven“ Kräften unter polnischen Juden zu kontrollieren. Mindestens gleichrangig aber waren zwei weitere Ziele: einerseits der Raub jüdischen Eigentums, beispielsweise der Wohnungen oder Häuser und des Hausrates, andererseits die Zusammenfassung der verfolgten Menschen an wenigen Orten, um so künftige Maßnahmen gegen sie leicht vorbereiten zu können.

Im Frühjahr 1940 war noch keine Entscheidung darüber gefallen, was Hitler, Himmler und das NS-Regime mit den aus Rassenwahn diskreditierten Menschen tun wollten. Das Auswärtige Amt erörterte nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 ernsthaft Pläne, Europas Juden nach Madagaskar zu deportieren. Da hier extrem harte Lebensbedingungen herrschten, die zudem seitens der Deutschen nicht verbessert werden sollten, wäre jedoch „eine Deportation nach Madagaskar in dieser Form einem Todesurteil“ gleichgekommen, urteilt der Historiker und Vizechef des renommierten Instituts für Zeitgeschichte München, Magnus Brechtken.

Als die Irrealität dieses Planes deutlich wurde, war eine Konsequenz, dass die Ghettos in Polen geschlossen und die Lebensbedingungen noch härter wurden. Gleichzeitig nahm die Ausnutzung der eingesperrten Menschen durch Zwangsarbeit noch weiter zu; außerdem wurden schon bald kleinere „jüdische Wohnbezirke“ aufgelöst und die dort „konzentrierten“ Menschen in größere Städte deportiert.

Der Massenmord begann vor Ort

Dabei allerdings wurden die Grenzen der Ghettos nur sehr selten erweitert; vielmehr pressten SS und deutsche Polizei vielfach einfach immer mehr Menschen in die abgesperrten Stadtviertel hinein. Das erschwerte die Überlebensbedingungen weiter und führte zu einer zunehmenden Sterblichkeit in den Ghettos.

Auch Hygiene, Lebensmittelversorgung und medizinische Versorgung erschwerten die Besatzer systematisch. Der Massenmord an Europas Juden begann mit solchen Maßnahmen vor Ort. Ab Ende 1941 folgten dann die Abtransporte in die Vernichtungslager wie Treblinka, Belzec und natürlich Auschwitz.

Wichtig sind die neuen Erkenntnisse der US-Forscher dennoch. Denn sie belegen einmal mehr, dass es im besetzten Europa nahezu ausgeschlossen war, von der handgreiflichen Judenverfolgung nichts mitzubekommen. Was bisher schon durch eine Fülle an Zeugnissen von Soldaten und Zivilisten wahrscheinlich war, wird nun zur Gewissheit: Vor der enormen Zahl der nationalsozialistischen Haftstätten musste man schon vorsätzlich die Augen verschließen, um sie nicht wahrzunehmen. Sehr viele Deutsche, die nach 1945 beteuerten, „nichts gewusst zu haben“, hatten wohl in Wirklichkeit genau so viel gesehen, dass sie auf keinen Fall mehr wissen wollten.

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