Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

Nachrichten

« Zurück

2. April 2015

Grußwort zu Pessach: „Große Herausforderungen“

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, zum Fest der Freiheit. Erschienen in der Jüdischen Allgemeinen vom 2. April 2015. Die Freiheit steht im Zentrum des Pessachfestes. Mit dem Lesen der Haggada am Sederabend bekräftigen wir nicht nur unsere Verbindung zu den Grundwerten unseres Glaubens. Wir vergegenwärtigen uns auch die Befreiung aus der Sklaverei, transportieren den beschwerlichen Weg durch die Wüste in unsere Realität und formulieren für uns einen konkreten, aktuellen Auftrag.

Die historischen Ereignisse prägen uns, beziehen sich nicht allein auf die Vergangenheit, sondern verpflichten uns auch in der Gegenwart und schulen uns für das Morgen. Der Kampf für die Freiheit – die eigene und jene des anderen – ist der Kampf, der über die Zukunft der Welt entscheidet.

Wein, Mazzot, Sroa, Bejza, Maror, Charosset, Karpas, Chaseret: Die Speisen auf dem Sederteller stehen symbolisch für jeweils ein Element, das den Auszug aus Ägypten darstellt. © Marina Maisel

Terroranschläge

Dieses Pessach steht unweigerlich unter dem Eindruck der jüngsten Exzesse des Terrors, besonders der Anschläge in Paris und Kopenhagen. Die Attentate waren nicht die ersten ihrer Art – und werden, so ist zu befürchten, nicht die letzten sein. Es sind Anschläge auf die Freiheit, auf das liberale Denken, die Demokratie.

Stand das World Trade Center für westlichen Fortschritt und freie Märkte, so symbolisieren die Ziele der Terroristen von Paris und Kopenhagen den Geist der (Meinungs-)Freiheit – und es waren wohlgemerkt Juden und jüdische Einrichtungen, die von den Terroristen attackiert wurden. Ein Fakt, der in Politik und Medien vielfach zu wenig Erwähnung fand.

Denn so evident die Symbolik auch sein mag, so gerne wird sie übersehen. Dass Juden nach dem Holocaust vor 70 Jahren Deutschland und Europa die Treue hielten, war ein Vertrauensbeweis in die Tragfähigkeit der freiheitlich-demokratischen Werte, die sich gerade wieder ihren Weg bahnten.

Menschenrechte

Und wenn heute ausgerechnet wieder Juden in Europa zum Ziel – islamistischen – Terrors werden, belegt das nicht nur den in der muslimischen Kultur verbreiteten erbarmungslosen Antisemitismus. Es ist zugleich ein Angriff auf jene Werte, Prinzipien und Menschenrechte, die zur Grundlage der westlichen Verfassungen wurden und die ein respektvolles und freiheitliches Miteinander bedingen.

Seit Jahrhunderten galt die Frage, wie in einer Gesellschaft, in einem Staat, Juden akzeptiert und respektiert werden, als Seismograf für die Freiheit. Antisemitismus kann historisch als das zentrale Symptom einer kränkelnden Gesellschaft betrachtet werden. Ein Schlag gegen Juden ist ein Anschlag auf die Freiheit – eine Attacke gegen die Errungenschaften, die in Europa über die letzten Jahrhunderte unter enormen Opfern erkämpft wurden, auf die wir stolz sein können und sollten, und die wir unbedingt beschützen und verteidigen müssen.

Es ist ein Armutszeugnis, dass Juden hierzulande nur unter Polizeischutz ihre Religion ausüben können. Gleichzeitig ist es eine Schande, dass auch die offensichtlichste antijüdische Aggression nicht als solche benannt wird. Wenn etwa ein Brandanschlag auf eine Synagoge »keine antisemitische Tat« ist, wie das Amtsgericht Wuppertal jüngst urteilte, mag das gut für die Statistik sein, aber es ist schlecht für den ehrlichen Umgang mit den unübersehbaren Missständen in unserer Gesellschaft.

Affront

Es ist ein Persilschein für solche abscheulichen Taten, die das jüdische Leben in Deutschland existenziell gefährden. Und wenn die Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt als »Zufall« eingeordnet wird, dann sind solche Relativierungen und Verharmlosungen befremdlich – ein Affront gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, die zunehmend besorgt und verunsichert ist.

Es stimmt zwar: Noch immer sind rechtsextremistische Organisationen der bedeutsamste politische Träger des Antisemitismus. Umso dringlicher muss das NPD-Verbot weiter entschlossen vorangetrieben werden – als Signal nach außen und nach innen, dass nationalsozialistisches Gedankengut in Deutschland keinen Platz mehr hat, weder im parteipolitischen Spektrum noch im parlamentarischen System.

Der Rechtsextremismus wurde über Jahrzehnte zu zaghaft bekämpft. Die braune Gefahr wurde fahrlässig, wenn nicht sogar systematisch vernachlässigt. Heute arbeiten neonationalsozialistische Ideologen an einer neuen Machtstrategie und rechtsradikale Kameradschaften erobern in bestimmten Regionen ganze Landstriche.

Islamismus

Aber uns fällt nun auf die Füße, dass auch der Islamismus viel zu lange willfährig übersehen wurde. Muslimische Migranten wurden unzureichend oder gar nicht in unsere Demokratie integriert. Man hat die sich immer weiter entfremdenden, in eine Parallelwelt abdriftenden Minderheiten nicht zuletzt auf unsere Kosten gewähren lassen, sie als Opfer betrachtet und die Radikalisierung in ihren Reihen ausgeblendet.

Doch Schönfärberei macht einen Zustand bekanntlich nur noch schlimmer. Es erfordert Mut, Probleme offen zu benennen und die sich ergebenden Herausforderungen selbstreflexiv und aktiv anzunehmen. Das aber ist das Gebot der Stunde. Denn der Kampf für die Freiheit ist niemals gewonnen – diese Lehre ist in diesem Jahr sehr konkret, nicht nur mit Blick auf Europa, sondern noch mehr mit Blick auf Tunesien, den Jemen, Syrien, Irak, Nigeria, Afghanistan und viele weitere Brandherde auf unserer Welt, so auch auf die Ukraine gleich vor unserer Haustür.

70 Jahre nach der Schoa stehen Europa und die Welt vor großen Herausforderungen. Der ungeniert erstarkende Antisemitismus ist nur eine davon. Aber die Art und Weise, wie die Staaten und Individuen diese bewältigen, wird ein Gradmesser dafür sein, wie wir für andere zivilisatorische Gretchenfragen gewappnet sind.

Hoffnung

Pessach ist ein Fest, an dem wir uns auf unsere eigene Stärken und die Verpflichtung zu einem verantwortungsvollen Umgang miteinander und mit G’ttes Schöpfung besinnen. Nur wenn wir uns als Menschen in G’ttes Sinne verhalten, dürfen wir auf G’ttes Segen vertrauen – und aus diesem Vertrauen neue Zuversicht, Kraft und Hoffnung schöpfen.

Lassen Sie uns aus der Geschichte von Pessach lernen. In diesem Sinne verbinden die wunderbaren Rituale der Sederabende, die wir im Kreise unserer Familien und Freunde verbringen, nicht nur die Juden auf aller Welt – sondern alle Menschen, die in Frieden und Freiheit und gegenseitigem Respekt miteinander leben wollen.

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien Pessach sameach vekascher! Die besten Grüße und Wünsche für ein frohes und koscheres Pessach.

Ihre Charlotte Knobloch

Alle Beiträge der Kategorie Nachrichten ansehen »

VeranstaltungenÜberblick »

April 2024 | Adar II-Nissan | « »

Aktuelle Veranstaltungen


So. 05.05.2024 | 27. Nissan 5784

Kultur

Gedenke und erinnere zu Jom Haschoah: Die Pianistin von Theresienstadt

Beginn 17:00

Sonntag, 5. Mai 2024, 17 Uhr

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern lädt anlässlich des 79. Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager und Erew Jom Haschoah ein:

Abend zum Gedenken an Alice Herz-Sommer (1903-2014)

Weiterlesen »

Alle Veranstaltungen »

Israelitische Kultusgemeinde
Kontakt
Israelitische Kultusgemeinde
München und Oberbayern K.d.ö.R.
St.-Jakobs-Platz 18
80331 München
Tel: +49 (0)89 20 24 00 -100
Fax: +49 (0)89 20 24 00 -170
E-Mail: empfang@ikg-m.de