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9. November 2013

EU-Studie: Europas Juden beklagen wachsenden Antisemitismus

Von Christoph B. Schiltz (Brüssel), erschienen auf Die Welt Online, 8.11.13. Eine deutliche Mehrheit der in Europa lebenden Juden sieht wachsende antisemitische Tendenzen. Belästigungen werden oft nicht bei der Polizei angezeigt. Zwischen den EU-Ländern gibt es Unterschiede.

Nimmt der Antisemitismus aus Sicht der Betroffenen zu? Wie erleben Juden in Europa Diskriminierung und Gewalt in ihrem Alltag? Diesen Fragen ging erstmals eine groß angelegte EU-Studie nach, die am Freitag veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse sind alarmierend: 76 Prozent der befragten Juden sind überzeugt, dass der Antisemitismus in ihrem Heimatland in den vergangenen fünf Jahren angestiegen ist.

Außerdem ist Angst ein ständiger Begleiter im Leben vieler Menschen mit jüdischem Glauben: Nahezu jeder Zweite (46 Prozent) fürchtet, wegen seines Glaubens in den kommenden zwölf Monaten Opfer eines verbalen Angriffs zu werden, und mehr als jeder dritte Jude (33 Prozent) hat Sorge, im kommenden Jahr Opfer einer Gewalttat zu werden.

Außerdem mussten 57 Prozent der Befragten nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr mindestens einmal erleben, dass der Holocaust als „Mythos“ oder als „übertrieben dargestellt“ bezeichnet wurde.

Antisemitismus im Internet

Die Umfrage wurde von der EU-Agentur für Grundrechte in Wien, einer offiziellen Institution der Europäischen Kommission, in acht Ländern durchgeführt: Neben Deutschland gehörten dazu auch Belgien, Frankreich, Ungarn, Italien, Schweden, Großbritannien und Lettland. In diesen Staaten leben 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung innerhalb der Europäischen Union.

Der Chef der Behörde, Morten Kjaerum, richtet nach Vorlage der Ergebnisse einen dringenden Appell an die EU-Staaten: „Während viele Regierungen große Anstrengungen unternommen haben, um Antisemitismus zu bekämpfen, sind noch mehr gezielte Maßnahmen notwendig.“ Sorge bereitet ihm vor allem der zunehmende Antisemitismus im Internet.

Laut Umfrage ist jeder zweite Jude in der EU der Ansicht, dass der Antisemitismus im Netz „stark angestiegen“ sei. Dies gilt vor allem für Ungarn, Frankreich und Belgien. 46 Prozent der Befragten glauben, dass sich Antisemitismus mittlerweile am stärksten im Internet manifestiere. Kjaerum: „Die EU-Länder sollten die Einführung von Maßnahmen erwägen, durch die sich die Aufdeckung und Verfolgung von Verbrechen mit antisemitischem Hintergrund im Internet verbessern lassen.“

Antisemitische Äußerungen unterschiedlich

Mit welchen antisemitischen Äußerungen werden die Betroffenen besonders häufig konfrontiert? Das ist durchaus unterschiedlich in den einzelnen Mitgliedsstaaten. In Deutschland, Belgien, Frankreich und Italien ist laut Umfrage besonders der Vorwurf verbreitet, die „Israelis würden sich wie Nazis gegenüber den Palästinensern“ verhalten.

42 Prozent der Juden in Deutschland mussten sich in den vergangenen zwölf Monaten auch anhören, dass „Juden für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt haben, dass sie Opfer des Holocaust sind“. Die in Ungarn lebenden Juden wurden dagegen in den letzten zwölf Monaten besonders häufig (59 Prozent) mit dem Vorwurf konfrontiert, dass „Juden für die aktuelle Wirtschaftskrise verantwortlich sind“. In Deutschland passiert das eher selten (15 Prozent).

In Ungarn und Frankreich scheint zudem die Auffassung weit verbreitet zu sein, dass „Juden zu viel Macht haben“ – 75 Prozent der in Ungarn lebenden Juden und 56 Prozent der in Frankreich lebenden Juden haben diesen Vorwurf in jüngster Zeit gehört. Zum Vergleich: In Deutschland sind dies 28 Prozent und in Großbritannien 21 Prozent.

Zwei Prozent Opfer gewaltsamer Übergriffe

Überraschend ist, dass 53 Prozent der Juden in der EU der Meinung sind, dass negative Äußerungen ihnen gegenüber insbesondere von Menschen stammen, deren politische Einstellung als links gilt – nur 39 Prozent meinen, dass antisemitische Äußerungen von Rechten ausgehen.

Jeder fünfte Europäer jüdischen Glaubens gab an, im vergangenen Jahr antisemitische Beleidigungen erlebt zu haben. Dies passierte besonders häufig in Ungarn (30 Prozent) und Belgien (28 Prozent), in Deutschland dagegen weniger oft (16 Prozent).

Zwei Prozent erklärten, wegen ihres Glaubens im vergangenen Jahr Opfer gewaltsamer Übergriffe gewesen zu sein.

20 Prozent haben erwogen, Heimatland zu verlassen

23 Prozent der Befragten teilten mit, aus Sicherheitsgründen jüdische Veranstaltungen oder Webseiten zu meiden. 27 Prozent verzichteten gelegentlich aus Angst darauf, bestimmte Orte in ihrer Nachbarschaft aufzusuchen, wobei die Werte in Belgien (42 Prozent), Ungarn (41 Prozent) und Frankreich (35 Prozent) klar über dem Durchschnitt liegen.

Fast jeder dritte Jude (29 Prozent) in der Europäischen Union hat in den vergangenen fünf Jahren erwogen, sein Heimatland zu verlassen, weil er sich dort nicht sicher fühlt.

Welche Rolle spielt nun der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern für das Sicherheitsgefühl der jüdischen Bevölkerung? In Deutschland sind 66 Prozent der Befragten der Ansicht, dass die Entwicklung im Nahost-Konflikt eine „sehr große“ oder „wichtige“ Rolle für ihre Sicherheit spielt, in Belgien vertreten sogar 93 Prozent diese Meinung und in Frankreich 90 Prozent.

Viele Opfer gehen nicht zur Polizei

In Deutschland glauben 41 Prozent der Befragten, dass sie „immer“ oder „regelmäßig“ für politische Maßnahmen der israelischen Regierung von ihren Mitbürgern angeklagt oder verurteilt werden – in Belgien sind es 62 Prozent, in Italien 59 Prozent und in Frankreich 58 Prozent. Als repräsentativ gilt in diesem Zusammenhang die Äußerung eines 70 bis 79 Jahre alten Juden, der in Deutschland lebt: „Ein Grund für den latenten Antisemitismus ist der offene Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern und anderen arabischen Ländern. Eine friedliche Lösung in diesem Konflikt würde auch den Bodensatz für Antisemitismus in anderen Ländern reduzieren.“

Fünf Prozent gaben an, dass ihr Eigentum in den vergangenen fünf Jahren nur deshalb beschädigt wurde, weil sie Juden sind. Aber nicht einmal die Hälfte von ihnen (48 Prozent) brachte diese Straftat auch zur Anzeige oder teilte sie anderen Institutionen wie etwa Menschenrechtsorganisationen mit.

Diese Entwicklung ist auch in anderen Bereichen zu verzeichnen: Nur acht Prozent derjenigen, die Opfer antisemitischer Belästigungen geworden sind, brachten den schlimmsten Vorfall dieser Art in den letzten fünf Jahren überhaupt der Polizei zur Kenntnis. Auch 64 Prozent der Opfer antisemitisch motivierter Gewalttaten verzichteten darauf, den Vorfall bei der Polizei oder anderen Organisationen anzuzeigen.

Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Fast die Hälfte der Befragten (47 Prozent) äußerten Zustimmung zu folgendem Satz: „Es würde sich nichts ändern, wenn man die Vorfälle zur Anzeige bringt.“ 27 Prozent vertraten diese Auffassung: „Der Vorfall war es nicht wert, angezeigt zu werden, denn das passiert ständig.“

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