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27. Januar 2014

Blockade von Leningrad: Eine Überlebende erzählt

Erschienen auf Deutsche Welle Online, 27.1.2014. „Wir aßen Frikadellen aus Kaffeesatz.“ Galina Pligina hat als Kind die Blockade von Leningrad überlebt. Heute, 70 Jahre später, erzählt sie für die DW noch einmal ihre ganz persönliche Geschichte.

Ab Anfang September 1941 war Leningrad von der Wehrmacht eingekesselt. Statt zäher und verlustreicher Straßenkämpfe befahl Adolf Hitler die Belagerung der zweitgrößten sowjetischen Stadt, um die Bevölkerung auszuhungern. Rund 900 Tage dauerte die Belagerung des heutigen Sankt Petersburg. Am 27. Januar 1944 konnte sie gebrochen werden.

Galina Pawlowna Pligina war 13 Jahre alt, als die Blockade Leningrads begann. Sie und ihre kleine Schwester mussten die Familie mit Flusswasser versorgen, vor Hunger Kleister essen, zusehen, wie die Nachbarn starben. Die Erinnerung, die sie bis heute am meisten schmerzt: Wie sie ihren Hund Alma einschläfern lassen musste, weil es nichts mehr zu essen gab. Nach der Blockade, so sagt Galina Pawlowna Pligina, habe sie ein erfülltes Leben geführt: voller Familienglück und Erfolg. Doch die Erinnerungen an die Blockade haben ihr Leben geprägt. Über die Erlebnisse aus dieser Zeit spricht sie bis heute nicht gerne. Für die DW-Reporterin Violetta Rjabko hat sie eine Ausnahme gemacht.

Wie alles anfing

„Kurz vor dem Beginn der Blockade hatten wir Leningrad eigentlich schon verlassen. Im Juni 1941 war ich 13 Jahre alt. Endlich waren Ferien, auf die ich so lange gewartet hatte. Mit meinen Eltern und meiner Schwester machten wir Urlaub in der Nähe von Jaroslawl. Dort waren wir auch, als am 22. Juni der Krieg in der Sowjetunion begann. Mein Vater meldete sich sofort an die Front. Und so entschied sich meine Mutter Ende August nach Leningrad zurückzukehren. Sie konnte ja nicht ahnen, was uns dort bevorstehen würde.

Wir fuhren in einem offenen Güterzug nach Leningrad. Auf dem Weg kam uns ein Zug aus Leningrad entgegen. Die Leute schrien uns zu: „Was macht ihr? Wieso fahrt ihr nach Leningrad? Man muss von dort fliehen!“

Wir wohnten nicht weit von der Eremitage entfernt, in einem alten Haus in der Millionenstraße. Früher gehörte die gesamte Wohnung einem berühmten Architekten. Als wir dort wohnten war dies eine Gemeinschaftswohnung, für mehrere Familien, uns gehörten allein zwei Zimmer. Doch die waren traumhaft schön! Fensterbänke aus Marmor, Kamin, Stuckdecken mit Löwenköpfen verziert… Wir hatten sehr nette Nachbarn. Es waren Deutsche, deren Vorfahren irgendwann nach Sankt Petersburg gekommen waren: Sehr intelligente Menschen, meine Mutter hat viel von ihnen gelernt. Wenn sie Feste feierten, zum Beispiel zu Weihnachten, haben sie uns immer eingeladen. Während der Blockade haben wir uns bemüht, einander zu helfen. Wir haben Brot miteinander geteilt. Einmal gab es einige Tage nacheinander kein Brot, wir haben uns lange nicht gesehen. Dann haben wir sie wieder besucht, und unsere Nachbarin sagte zu ihrem Mann: „Na schau doch! Galetschka hat uns Wasser gebracht, Nina Brot. Wir werden feiern! Und du wolltest sterben“.

Kein Wasser und kein Strom

Zuerst hat man den Strom abgestellt. Dann das Wasser abgedreht. Und wir mussten zum Fluss gehen, um Wasser zu holen. Ich kann mich noch an den ersten Luftangriff erinnern. Wir liefen alle in den Keller, sind dort stehen geblieben, haben uns bekreuzigt. Dann wurden die Luftangriffe so häufig, dass es sich gar nicht mehr lohnte, hin und her zu laufen, und so entschieden wir, unsere Wohnung nicht mehr zu verlassen. Bis Anfang Dezember 1941 waren wir noch zur Schule gegangen, doch dann wurde es immer kälter, bis Minus 30 Grad. Wir hatten keine Kraft mehr, uns zu bewegen.

Wir bekamen Lebensmittelkarten. Für eine Karte bekam man ein Stückchen Brot. Die Lebensmittel sind sehr schnell ausgegangen, überall in der Stadt. Meine Mutter machte Frikadellen aus Kaffeeersatz. Mein Vater – er war Nachrichtenoffizier und hat uns zu Beginn der Blockade noch oft besuchen können – kaufte Tapetenkleister und daraus wurden dann „Pfannkuchen“ gebacken.

Der Hund musste eingeschläfert werden

Wir hatten einen Hund – einen deutschen Schäferhund namens Alma. Aber schon im November 1941 sagte meine Mutter, dass wir den Hund nicht mehr versorgen könnten. Sie sagte, man müsse den Hund von einem Tierarzt einschläfern lassen. Ich selbst sollte den Hund dorthin bringen. Das kann ich bis heute nicht vergessen… Die Menschen in Leningrad haben ihre Katzen aufgegessen, und ich brachte meinen Hund zum Einschläfern. Der Tierarzt sagte, ich solle den Maulkorb abtun. Alma ist ganz ruhig geblieben, hat sich nicht gerührt. Sie hat alles verstanden. Der Arzt brachte sie raus aus dem Zimmer, und ich bin nach Hause gegangen, habe mich hingelegt und habe mich einige Tage gar nicht mehr bewegt. Ich hatte später im Leben sehr viele Hunde, aber Alma habe ich nie vergessen…

Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir meine Tante besuchen wollten. Sie wollte uns helfen, Plätze in einem der Transporte zu bekommen, die über den Ladogasee aus der Stadt führten. Auf dem Weg kamen wir an einem Krankenhaus vorbei, daneben war sehr viel Holz gestapelt. Wir dachten: unglaublich, wie viel Holz einfach so herumliegt. Dann kamen wir näher. Es war kein Holz, sondern Leichen. Die Lebenden hatten keine Kraft mehr die Toten zu begraben, und so hat man sie einfach liegen lassen…

Flucht Ende April 1942

Ende April 1942 hat man uns schließlich über den Ladogasee evakuiert, kurz bevor man die Straße des Lebens [über den gefrorenen Ladogasee führte der einzige Weg hinaus aus der belagerten Stadt, die Menschen nannten diesen Weg daher „Straße des Lebens“, Anm. der Redaktion] wegen des Tauwetters schließen musste. Wir waren mit offenen Lastwagen unterwegs, unter Bomben…

Zurück nach Leningrad kamen wir erst 1944. Ich erinnere mich, dass es einmal klingelte und als ich dir Tür öffnete, stand dort ein deutscher Soldat. Ich habe einen riesigen Schreck bekommen! Damals gab es sehr viele deutsche Kriegsgefangene in der Stadt. Sie hatten bei uns im Haus eine neue Heizung verlegt. Um ein wenig Geld zu verdienen, verkauften sie selbstgebastelte Kleinigkeiten. Manche Sachen waren ganz hübsch. Dieser Soldat wollte mir eine selbstgebastelte Spardose verkaufen. Ich brauchte keine und doch habe ich sie gekauft. Aus Mitleid.“

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