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14. Oktober 2012

Antisemitische Gewalt – Spurensuche im Malerviertel

Knapp sieben Wochen nachdem ein Rabbiner in Berlin zusammengeschlagen wurde, lässt die Polizei kein Wort über den Stand der Ermittlungen laut werden. Immer noch gibt es keinen Täter. Eine Spurensuche. Von Freia Peters, erschienen auf Die Welt Online, 14.10.2012.

Daniel Alter setzt sich in das Café der Deutschen Oper. Als er die Baseballmütze abnimmt, fällt ihm die Kippa vom Kopf, hoppla, sagt er, und setzt sie wieder an ihren Platz. Gut gehe es ihm, er habe keine Schmerzen mehr. „Heute ist der erste Tag, an dem ich wieder kauen kann“, sagt Alter. Seit Ende August habe er das erste Mal keinen Brei zum Frühstück gelöffelt, sondern in ein knuspriges Brötchen gebissen.

Fast sieben Wochen ist es nun her, dass Jugendliche den Rabbiner vor seinem Haus zusammengeschlagen haben; einer hat ihm von vorne das Jochbein gebrochen, ein anderer von hinten einen Fausthieb auf den Hinterkopf gegeben. „Bist du Jude?“ An die Frage kann sich Alter noch erinnern, ebenso wie an die Drohung „Ich bring dich um!“ gegenüber seiner siebenjährigen Tochter, die an seiner Hand ging.

Der Fall machte weltweit Schlagzeilen: Der erste Rabbiner, der nach dem Holocaust in Deutschland ordiniert wurde, wird von südländisch aussehenden Jugendlichen zusammengeschlagen. Entsprechend groß war die Bestürzung. „Die Polizei wird alle Anstrengungen unternehmen, die Täter zu ermitteln und festzunehmen“, versprach der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD).

Innensenator Frank Henkel (CDU) zeigte sich zuversichtlich, dass die Ermittlungen rasch erfolgreich sein würden. Das war Anfang September, als es noch heiß war in Berlin.

„Warum gibt es noch immer keine Ergebnisse?“

Gibt es heute, sechs Wochen später, eine konkrete Spur? „Da würde ich mich ungern zu weit aus dem Fenster lehnen“, sagt Martin Steltner, Sprecher der Staatsanwaltschaft. Die Anwohner des Viertels sind ungeduldig geworden, ein Unternehmer hat 5000 Euro Belohnung ausgesetzt für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen. Besser gesagt, er hatte es vor und traf sich mit einem leitenden Ermittler des Landeskriminalamtes.

Dieser gab ihm zu verstehen, dass private Spenden in laufenden Ermittlungen schwierig bis unmöglich seien.

„Warum gibt es noch immer keine Ergebnisse?“, fragt eine Bewohnerin der Nachbarschaft. Sie hat sich beim Landeskriminalamt erkundigt, dort sagte man ihr, dass die Ermittlungen laufen und jedem Hinweis nachgegangen wird.

Allzu viel scheint man bislang nicht gefunden zu haben bei jenen Ermittlungen, die ja „rasch erfolgreich“ sein sollten. Eine Spurensuche der „Welt am Sonntag“ führt in die Straßen des Malerviertels von Berlin-Friedenau, in dem prachtvolle Jugendstilbauten stehen.

Max Frisch hat hier gewohnt, Günter Grass, Theodor Heuss. Heute leben viele ehemalige Lehrer in diesem Stadtteil, Rechtsanwälte. Das Ehepaar Alter wohnt mit seinen Töchtern direkt neben einer kleinen italienischen Trattoria.

„Die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen“

Um die Ecke gibt es einen Innenhof, in dem sich seit Anfang des Jahres jeden Nachmittag vier bis sechs Jugendliche aufhielten, die Nachbarn schätzen, dass es arabischstämmige Jungen sind.

Drei Familien erzählen dieselben Dinge: Die Jugendlichen hingen im Hof ab, machten Mädchen an, warfen mit Steinen, rauchten, pinkelten gegen die Mülltonnen; wenn Anwohner mit der Polizei drohten, verschwanden sie.

Seit dem 28. August 2012 sind diese jungen Männer sind nicht mehr in der Gegend gesehen worden, seit dem Tag also, an dem Alter krankenhausreif geschlagen wurde. Danach sollen schwarze BMWs im Kiez Patrouille gefahren sein.

Die Nachbarn hatten Fotos gemacht von diesen Jugendlichen. Sie tragen Trainingsanzug, Kapuzensweatshirts, hocken auf der Lehne einer Parkbank, rauchen, langweilen und raufen sich auf den Aufnahmen. Daniel Alter hat sich die Fotos angeschaut. Er glaubt, dass einer von ihnen „ziemlich sicher der Haupttäter“ gewesen ist. Die Schwierigkeiten der Ermittler, diesen jungen Mann zu identifizieren, hält er für nachvollziehbar.

„Außer mir gibt es keine Zeugen. Das ist die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen.“ Alter glaubt nicht, dass die Jugendlichen aus dem Kiez stammen, sonst wären sie ihm vorher einmal über den Weg gelaufen, und daran kann er sich nicht entsinnen.

„Ich bin der große Bruder. Willst du Stress?“

Die Anwohner hingegen glauben schon, dass die Männer aus dem Viertel stammten und geben den Hinweis auf ein bestimmtes Haus, eins der wenigen in der Gegend mit sozialem Wohnungsbau. Der Platz nahe der S-Bahn-Trasse und der Autobahn gilt seit Jahren als Brennpunkt; das Jugendamt und die Polizei sind oft vor Ort in dem Haus mit den bunten Balkonen, das die Bewohner wegen des zahlreichen Nachwuchses „Kinderhaus“ nennen.

Auch an diesem Nachmittag spielen Kinder vor dem Haus, jagen durch den Flur, raufen sich im Aufzug. Eine Mutter brüllt vom Balkon „Was willst du?“ hinunter zu ihrer Tochter, die nach ihr verlangt. Die Kinder erkennen die Jugendlichen auf den Fotos sofort. Zwei von ihnen wohnen im Haus. Aber niemand öffnet die Tür.

Am nächsten Morgen steht ein schönes junges Mädchen in der Wohnungstür. Ob Mahmud* zu Hause ist? Nein, sagt sie. Aber Mahmud hat gehört, dass jemand nach ihm fragt und erscheint plötzlich doch mit verschlafenem Gesicht an der Tür, eingehüllt in eine Wolldecke mit Tigermuster. Ob er von dem Überfall auf den Rabbiner gehört habe?

„Na klar, hat ja jeder mitgekriegt, stand ja in der Zeitung.“

„Kannten Sie Herrn Alter?“

„Nee.“

Ein zweiter kommt an die Haustür.

„Ich bin der große Bruder. Willst du Stress? Das war hier niemand aus dem Kiez. Das waren andere, ist das klar?“

„Woher weißt du das?“

„Weil das so ist.“

Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus

Mahmuds Familie kommt aus Palästina. Gemeinsam mit seinem Freund Hassan* besucht er eine Oberschule. Hassan wohnt in der Nachbarschaft. Seine Familie kommt aus dem Libanon. Die Mutter öffnet die Tür, eine kleine freundliche Frau, die ihren jüngsten Sohn zum Übersetzen ruft. In der Wohnung lebt sie mit ihren Kindern, Hassan, 15 Jahre, ist der Zweitälteste.

„Meine Eltern sind kein Paar mehr“, sagt der kleine Junge. „Hassan ist mit seinem Vater weggefahren, er ist nicht in Berlin“, lässt die Mutter übersetzen. Was Ihr Ex-Mann arbeite? „Das frage ich ihn nicht so genau“, sagt sie. Hassan jedenfalls sei am Tag des Überfalls auf den Rabbiner nicht in Berlin gewesen und könne daher nicht als Zeuge befragt werden. Auch die Polizei sei nie bei ihr gewesen. Für die Anwohner ist das alles kaum nachvollziehbar.

„Die beiden Personen sind Gegenstand der Ermittlungen“, widerspricht der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Mehr könne er aus ermittlungstaktischen Gründen nicht preisgeben.

Daniel Alters Tochter beginnt nun eine Therapie, in der sie das traumatische Erlebnis lernen soll zu verarbeiten. „Wir wollen nicht wegziehen aus Berlin.“ Andererseits sei der Antisemitismus im vergangenen Jahr immer offener zu Tage getreten. E-Mails mit judenfeindlichen Beschimpfungen würden heute nicht mehr anonym geschickt, sondern mit Name und Adresse.

„Wenn dieser Entwicklung kein Einhalt geboten wird“, sagt Alter, „muss ich meine Entscheidung, in Deutschland zu leben, überdenken.“ Im Moment aber stellt sich der Rabbiner der Situation. Den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus will er aufnehmen, sich nicht verstecken.

Woher kommt dieser Hass?

Als Alter vor sechs Jahren ordiniert wurde, war es sein größer Wunsch, dass das jüdische Leben in Deutschland wieder ein Stück mehr zur Normalität gehört. „Wann wird das der Fall sein? Wenn ich mich offen als Jude in Deutschland zu erkennen gebe“, sagt Alter.

„Meine Frau hat mich bereits vor Jahren gebeten, eine Mütze über der Kippa zu tragen. Erst dachte ich, sie sei zu Unrecht ängstlich. Aber heute muss ich zugeben, sie hatte recht.“ Auch am Tag des Überfalls hatte Alter eine Baseballmütze getragen. Doch am Hinterkopf hatte die Kippa hervorgelugt. „Letztendlich war ich von dem Angriff auf meine Person nicht überrascht“, sagt Alter. „Auch wenn ich immer gedacht habe, dass es mir selbst nie passieren wird.“

Woher kommt dieser Hass? Islamwissenschaftler verweisen auf den Ausbau des Satellitenfernsehens, durch das arabische Programme zunehmend auch in Europa preiswert zu haben sind. So kann man auch in deutschen Wohnzimmern etwa die iranische Serie „Sarahs blaue Augen“ sehen, die im Gazastreifen spielt und in der Israelis Handel mit Organen von Palästinenserkindern betreiben.

Rassismus, sagt Alter, sei immer etwas Irrationales. Oft gehe es um gängige Ressentiments: Die Juden, die die Medien kontrollieren, die die Finanzkrise ausgelöst haben. „Dann wird der Nahost-Konflikt herangezogen, um ein irrationales Gefühl rational zu erklären.“ Dass der Rabbiner nun mal merken würde, was die Palästinenser in Nahost jeden Tag erleben, sagt ein ehemaliger Lehrer aus dem Viertel.

Jeder Fünfte hat antisemitische Einstellungen

Eine Studie des Deutschen Bundestages sieht bei etwa 20 Prozent der deutschen Bevölkerung antisemitische Einstellungen. „Es ist zu viel. Das Bewusstsein, dass 20 Prozent der Menschen um mich herum rassistische Ressentiments, antisemitische Ressentiments gegen mich haben, das ist zu viel.“

Doch Alter ein trotziger Mensch. „Ich will mich denen nicht unterwerfen“, sagt er im Hinblick auf die Täter. „Die werden es nicht erleben, dass ich angsterfüllt in der Ecke sitze.“

Die Ermittlungen dauern an. Der Staatsanwalt lässt nochmals ausrichten, dass allen Vermutungen „mit Hochdruck“ nachgegangen wird.

* Die Namen wurden von der Redaktion geändert

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