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1. März 2013

Antisemitismus: Der linke „Judenknacks“ der 68er

Von Dan Diner, erschienen auf Die Welt Online, 28.2.2103. München 1970: Antisemitische Anschläge erschüttern das Land. Wolfgang Kraushaar sucht nach den Tätern. Er stößt auf Fritz Teufel, auf Verbindungen zum Olympiaattentat und auf Parallelen zur Nazizeit.

Auf den ersten Blick handelt Wolfgang Kraushaars Buch über „München 1970“ von einem bis auf den heutigen Tag ungelöst gebliebenen Kriminalfall: den am späteren Abend des 13. Februar 1970 auf das in der Münchener Reichenbachstraße gelegene Altenheim der jüdischen Kultusgemeinde verübten Brandanschlag. Diesem Verbrechen waren sieben Menschen zum Opfer gefallen, zumeist dem Holocaust entronnene Juden. Rückblickend erscheint das Geschehen ebenso unwirklich wie ungeheuerlich, geradewegs fantastisch – so als könnte es sich eigentlich nicht wirklich ereignet haben.

Der offen gebliebene Kriminalfall steht mithin für zweierlei: für ein reales, bislang ungesühntes Verbrechen wie, als Chiffre, für eine versunkene, dem historischen Bewusstsein gleichsam entschwundene Zeit. In ihr scheint sich so etwas wie ein nazistisch affizierter Wiederholungszwang ausgelebt zu haben – ein an das durch Auschwitz verwandelte Wort vom „Brandopfer“ gemahnendes Geschehen. Die Zeit der frühen Siebzigerjahre findet sich bis dato ebenso wenig entschlüsselt wie der für sie stehende enigmatische Kriminalfall in der Münchener Reichenbachstraße.

Das eigentliche Geschehen stand offenbar im Kontext eines dramatischen Zusammenspiels zweier topografisch weit auseinander liegender Welten. Zwar werden diese Ereigniswelten von zwei chronologisch aufeinander folgenden Jahreszahlen symbolisiert – von 1967 und von 1968. Doch aus dieser Zahlenfolge erschließt sich noch kein einschlägiger, erst recht kein kausaler Zusammenhang.

Linker Mummenschanz

So steht das Jahr 1967 für den arabisch-israelischen Junikrieg, den sogenannten Sechs-Tage-Krieg; das Jahr 1968 wiederum für eine weltweite, vornehmlich im Westen sich ausbreitende Jugendrevolte, die sich zur Bebilderung der zum Ausbruch drängenden politischen Energien jeweils spezifischer, nah gelegener Vergangenheiten bedient. In der Bundesrepublik wurden Weimar und die Zeit des Nationalsozialismus – jedenfalls eigenwillige davon in Umlauf gebrachte Deutungen – als aktuelle Drohkulissen aufgezogen. Vor diesem Hintergrund spielte sich jener Mummenschanz ab, der von Spurenelementen eines Wiederholungszwangs durchdrungen war.

Ausgehend von einer schrill vorgetragenen Berufung auf einen seinerseits problematischen Antifaschismus, der zunehmend antiimperialistisch wurde, stellte sich eine dramatische Verkehrung der Wirklichkeit ein. Emblematisch dafür steht die Aussage Ulrike Meinhofs, die im Prozess gegen Horst Mahler Ende 1972 als Zeugin geladen war. Sie forderte, das deutsche Volk von den Verbrechen „des Faschismus“ freizusprechen – als Voraussetzung für dessen Mobilisierung für „unseren revolutionären Kampf“. Dabei wird dem Antisemitismus eine „seinem Wesen“ nach antikapitalistische und durchaus positive Natur bescheinigt.

Auffällig jedenfalls ist der Umstand, dass sich gerade in den ehemaligen „Achsenmächten“, also in den Ländern, welche im Zweiten Weltkrieg gegen die Alliierten verbündet waren, in den Siebzigerjahren terroristische Gruppen im Zeichen des Antiimperialismus formierten und zu ebensolchen Handlungen schritten. Dies trifft auf Japan, Italien und in erster Linie auf Deutschland zu.

Das „Zionistenduo“

Angriffe auf amerikanische Einrichtungen ließen daher den Eindruck aufkommen, als folgten die Terroristen wie von unsichtbarer Hand gelenkt den Spuren der von den Nazis ausgelegten Fährte eines die Alliierten bekämpfenden „Werwolfs“. Bei der Choreografie dieses Terrors schien es sich um eine Endmoräne des Zweiten Weltkriegs zu handeln, die bis in die damalige Gegenwart hineinreichte.

Ausgiebig lässt Kraushaar Personen zu Wort kommen, die in der frühen Phase terroristischer Grenzüberschreitung sich antisemitisch zu erleichtern suchten. Protagonisten wie Dieter Kunzelmann riefen dazu auf, sich eines vorgeblich in Deutschland verbreiteten Gebrechens namens „Judenknacks“ zu entledigen. Um den Erfolg einer solchen Kur sicherzustellen, galt es mehr zu unternehmen, als bloß frei von der Leber über Juden zu schwadronieren.

Für diese neue Freiheit stand der sich zunehmend als Todesengel entpuppende Witzvogel Fritz Teufel. Teufel persifliert den Stand der damaligen Hitparade mit den Worten: „… zur Zeit führten immer noch Simon+Karbunkel, das Zionistenduo mit dem israelischen Luftwaffenhit El Condor Pasa …“ Angesichts des zeitnahen Geschehens des bislang niemandem nachgewiesenen Brandanschlags in der Münchener Reichenbachstraße und anderer damals erfolgter politisch entfachter Feuersbrünste kommen solche Sprüche geradezu folkloristisch daher.

Linksradikale Terroraktionen

Von einer weniger verspielten Aura umgeben waren die von den Ereignissen des Jahres 1967 im Nahen Osten ausgehenden Schockwellen, die bald darauf vor allem die Bundesrepublik erreichten. Mit der Niederlage der arabischen Armeen im Krieg gegen Israel schien die Stunde der palästinensischen Irregulären zu schlagen. Beflügelt vom Vietnamkrieg und einer international um sich greifenden Gewissheit, bewaffneten Erhebungen in der „Dritten Welt“ sei der Erfolg wie von selbst beschieden, bedienten sich palästinensische Organisationen einer Gewalt, die zwischen Guerillakrieg und grenzenlosem Terrorismus oszillierte.

An ihr Ende gelangte diese Phase erst mit dem Oktober-Krieg 1973, als die konventionellen arabischen Armeen aufs Neue militärisch reüssierten. Der so erlangte halbe Sieg gegen Israel wurde in einen von den Vereinigten Staaten gelenkten diplomatischen Prozess überführt, der im Friedensabkommen von Camp David 1979 mündete – eine Tendenz, der sich die PLO von 1974 an ebenso zögerlich wie ambivalent anzuschließen suchte. Zuvor, in der hohen, zwischen 1970 und 1973 gelegenen Zeit der Fedajin, gingen Guerilla und Terrorismus Hand in Hand. Je weniger Erfolge der Guerillakrieg verzeichnete, desto terroristischer, sprich: unterschiedsloser wurde die von ihnen ausgehende Gewalt. Vor allem dann, als sie den Luftverkehr ergriff.

In der Bundesrepublik entstand ein gewaltbereites Milieu, das offenbar danach trachtete, die von den Zeitikonen 1967 und 1968 ausgehenden Ereignisschübe miteinander zu verknüpfen. Seinen negativen Höhepunkt erreichte diese Tendenz in der Entführung einer Air France Maschine im Juli 1976 nach dem ugandischen Entebbe, gefolgt von einer unter aktiver Beteiligung von Deutschen durchgeführten Selektion der jüdischen Passagiere – womit wir wieder beim unverhüllten Wiederholungszwang wären, der große Teile des linksradikalen Spektrum erfasst hatte.

Die Tragödie von Fürstenfeldbruck

Kraushaar konzentriert sich in seinem Buch gleichwohl vornehmlich auf die Vorgänge im München der frühen Siebzigerjahre. Die Wahl dieses Gedächtnisortes deutscher Geschichte liegt durchaus nahe, zumal dort eine Kumulation dramatischer Ereignisse zu beobachten ist. Zu diesen Ereignissen gehören der nur wenige Tage vor dem Brandanschlag in der Reichenbachstraße erfolgte, als Entführung mit Geiselnahme gescheiterte tödliche palästinensische Anschlag auf eine auf dem Flughafen Riem zwischengelandeten El-Al-Maschine, ein durch Sabotage herbeigeführter Absturz einer Swissair-Maschine ebenso wie die 1972 in einem Massaker auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck endende palästinensische Geiselnahme der israelischen Olympiamannschaft.

Es sind vor allem die kleinen, scheinbar unbedeutenden, von Kraushaar ans Licht beförderten Einzelheiten, die einen tiefen Einblick in die damals in der Bundesrepublik vorherrschende Stimmungslage erlauben. So wird in der am 13. Februar 1970 um neun Uhr abgehaltenen öffentlichen Sitzung des Kreisverwaltungs- und Polizeiausschusses des Münchener Stadtrates, also nur wenige Tage nach dem tödlichen Entführungsversuch auf dem Flughafen Riem und wenige Stunden vor dem verheerenden Brandanschlag in der Reichenbachstraße, darüber gesprochen, welche Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes israelischer Fluggäste unternommen werden könnten. Als vorgeschlagen wird, die am Flughafen eingesetzten Beamten mit Maschinenpistolen auszurüsten, werden Befürchtungen laut, dies könnte zu „kriegerischen Psychosen“ führen.

Tatsächlich lassen sich in Deutschland angesichts der Verbrechen der Vergangenheit so etwas wie kontraphobische Reaktionsbildungen diagnostizieren. In letzter Konsequenz heißt dies die Anwendung von Gewalt gleichsam pauschal unter Kuratel zu stellen. Anders ausgedrückt: Es hatte sich ein unbedingter Pazifismus zu einem nationalen Charaktermerkmal verdichtet, der auch auf den legalen, maßvollen, angemessenen Einsatz von Gewalt übergriff.

Der „Deutsche Herbst“

Damit freilich ging die Fähigkeit zur Unterscheidung ebenso verloren wie die sie begleitenden Tugenden Vernunft, Courage und Verantwortung. Dass die Anwendung von extralegaler Gewalt damals in demonstrativer Geste politischer Selbstermächtigung von terroristisch handelnden Gruppen als vorgebliche „Gegengewalt“ gerne und nicht zuletzt auch martialisch ausgeübt worden war, vermag dieses Bild durchaus zu komplementieren.

Die frühen Siebzigerjahre waren Jahre der großen Friedensoffensive der Bundesregierung im Kalten Krieg. Die mit dem Namen Willy Brandt verbundene Ostpolitik war das eigentliche große Ereignis jener Zeit. Der Blick war auf den kontinentalen, auf der horizontalen West-Ost-Achse gelegenen Zeit- und Ereigniszusammenhang gerichtet. In diese Konstellation hinein stieß ein Konfliktzusammenhang, der recht eigentlich auf einer vertikalen Nord-Süd-Achse gelegen war.

Dass diese weitgehend ausgeblendet blieb, lässt sich anhand des polizeilich-militärischen Fiaskos der versuchten Geiselbefreiung auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck während der Olympischen Spiele ablesen. Diese Haltung fand mit der Geiselbefreiung von Mogadischu im Kontext des „Deutschen Herbstes“ 1977 ihr dramatisches Ende. Auch der versuchte gewalttätige Ausbruch aus der Geschichte fand alsbald sein Ende, als mit der Ausstrahlung des Spielfilmes „Holocaust“ zu Jahresbeginn 1979 die Öffentlichkeit in Deutschland sich gleichsam flächendeckend des Zentralereignisses ihrer Historie – von Auschwitz – wirklich bewusst zu werden begann. Von da an entfaltete ein anderes Paradigma der Zeitdeutung seine Geltung.

Dan Diner ist Historiker, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem und Leiter des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig.

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