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20. Dezember 2013

Massenmörder aus der Mitte der Gesellschaft

Die Welt 18.12.13. Am 20. Dezember 1963 begann in Frankfurt der Auschwitz-Prozess. Erstmals wurde von einem deutschen Gericht festgestellt, wie die Vernichtungsfabrik funktionierte und wie „normal“ die Täter waren. Von Peter Reichel, erschienen auf DIE WELT online. Die Weihnachtsgeschenke sind längst gekauft, die Menschen schon in Vorfreude auf das Fest eingestimmt, da beginnt, wenige Tage vor Heiligabend 1963, der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess. Die meisten Bundesbürger dürften die Konfrontation mit ihrer düsteren Vergangenheit als ganz und gar unpassend empfinden. Wirklich überrascht sein können sie von diesem Prozess jedoch nicht.

Im Februar 1963 hat die Premiere von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ für Aufsehen gesorgt. Die Papstanklage provozierte im In- und Ausland leidenschaftliche Debatten um die Frage einer politischen Mitschuld von Pius XII. am Judenmord. Vier Jahre zuvor haben Hakenkreuzschmierereien an der Kölner Synagoge den Bundesbürgern schon einmal den Heiligabend verdorben. 1960 verabschiedete der Bundestag als Reaktion auf die Antisemitismusvorfälle das nicht unumstrittene „Gesetz gegen Volksverhetzung“. Im gleichen Jahr erschien „Der gelbe Stern“, wurde die Sendereihe „Juden, Christen, Deutsche“ gezeigt, lief der vom WDR produzierte Mehrteiler „Am Grünen Strand der Spree“ über die Mattscheiben. Erstmals waren in einem fiktionalen Fernsehfilm Bilder der Judenvernichtung zu sehen.

Erster Auschwitz-Prozess in Deutschland

Mit dem maßgeblich von dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorbereiteten Verfahren gegen ehemalige Angehörige der Lagerleitung begann der erste deutsche Auschwitz-Prozess. Ihm waren mehrere Auschwitz-Verfahren vor nichtdeutschen Gerichten vorausgegangen: In Warschau, in Krakau, in Nürnberg. Hauptangeklagter in Frankfurt sollte Richard Baer sein. Aber der letzte Lagerkommandant starb in der Untersuchungshaft. So standen nur noch nachgeordnete Personen aus der Lagerleitung vor Gericht. Dank der täglichen Berichterstattung mancher überregionalen deutschen Tageszeitung wurden einige der 22 Angeklagten schnell bekannt: So der ehemalige SS-Hauptsturmführer Robert Mulka (68 Jahre), Kriegsfreiwilliger von 1914, Mitglied der Baltischen Landwehr im Kampf gegen den „Bolschewismus“, Mitglied des „Stahlhelm“ und Hamburger Im- und Exportkaufmann, kam über die Waffen-SS nach Auschwitz und wurde Adjutant von Höß.

So der ehemalige SS-Unterscharführer Oswald Kaduk (57), im oberschlesischen Königshütte geboren, der nach Volksschulbesuch und Tätigkeiten im örtlichen Schlachthof und bei der städtischen Feuerwehr ebenfalls über die Waffen-SS nach Auschwitz kam. Die Zeugen beschreiben ihn, der bis zu seiner Festnahme in einem Berliner Hospital als Krankenpfleger gearbeitet hat und von seinen Patienten liebevoll „Papa Kaduk“ genannt wird, als einen besonders sadistischen SS-Schergen.

  Exekutoren der „Endlösung“ waren keine Monstergestalten

So der ehemalige SS-Untersturmführer und Arzt Dr. Franz Lucas (52), der über eine Zusatzausbildung an der Ärztlichen Akademie der Waffen-SS in Graz nach Auschwitz kam, sich einer militärgerichtlichen Verurteilung durch Flucht entziehen konnte und später leitender Arzt für Geburtshilfe und Gynäkologie am Krankenhaus in Elmshorn wurde. In der Öffentlichkeit entsteht durch widersprüchliche Zeugenaussagen der Eindruck, der Angeklagte sei eine Art „weißer Rabe“ gewesen, der Selektionen auch verweigert und kranken Häftlingen geholfen habe.

So der ehemalige SS-Untersturmführer Hans Stark (42), studierter Landwirt und Lehrer an einer Landwirtschaftsschule, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er ist der jüngste von allen. Als knapp 19jähriger kam er über eine Ausbildung bei SS-Einheiten in Oranienburg, Buchenwald und Dachau nach Auschwitz, wurde zunächst mit der Registratur der Toten beauftragt und dann zur Politischen Abteilung versetzt. Zwischendurch durfte er mit Sonderurlaub nach Hause fahren, um die Reifeprüfung abzulegen.

Wie kein anderer zeigt er sich aussagewillig und schuldbewusst. In den Befragungen durch das Gericht entsteht ein vorteilhaftes Bild. Die Zeugenaussagen verwandeln es allerdings in das eines arroganten, sadistischen SS-Mannes, der den Mitangeklagten an Brutalität kaum nachgestanden habe.

Dass die Exekutoren der „Endlösung“ keine Monstergestalten waren, hatten schon die Nürnberger Prozesse erkennen lassen. Als Zeuge der Verteidigung musste dort auch Rudolf Höß aussagen, der dem Gericht durch seine autoritätsfixierte Sachlichkeit und ungerührt-bereitwillige Auskunftsfreude aufgefallen war. Eigenschaften, die sich in seinen autobiografischen Aufzeichnungen spiegeln, einem Schlüsseltext zum Verständnis der SS-Täter.

Auschwitz = „Größte Menschen-Vernichtungsanlage aller Zeiten“

Das Gericht hält diese Quelle als Zeugnis so wichtig, dass es die Aufzeichnungen in seiner Beweisaufnahme verlesen lässt. Höß, 1900 in Baden-Baden in eine katholische Kaufmannsfamilie geboren, wurde mit 17 Jahren der jüngste Unteroffizier des Kaiserreichs. Nach dem Kriege schloß er sich einem Freikorps an, war an einem Fememord beteiligt und musste eine zehnjährige Zuchthausstrafe verbüßen – für ihn, wie er schreibt – eine besonders ergiebige Zeit. Er beschäftigt sich, wie ein ‚teilnehmender Beobachter‘, mit dem Häftlingsverhalten und der Gefängnisorganisation, interessiert sich für Rassenkunde und Vererbungslehre, lernt Englisch und Schachspielen. Vorzeitig entlassen, denkt er an Auswanderung und an eine landwirtschaftliche Existenz. Als er mit dem Artamanenbund in Verbindung kommt, schließt er sich der SS an. Seine KZ-Karriere führt ihn von Dachau nach Auschwitz. Höß beschreibt sich als distanziert-beziehungslos, schon als Kind isoliert, ohne Nähe zu den Eltern. Er liebt nur Natur und Tiere.

In seiner neuen Aufgabe, der Überwachung des Lagers und der Organisation der Massenvernichtung, will er Vorbild sein für seine Untergebenen und erfolgreich. Er weiß, was man von ihm in Berlin erwartet. Innere Spannungen zwischen Dienst- und Familienpflichten kompensiert er durch Alkohol. Unzufriedenheit mit der Lagerorganisation durch zunehmende Distanz im Umgang mit dem Personal. Er ist ehrgeizig, autoritätsgläubig und verfügt über eine beachtliche organisatorische Kompetenz. Dafür wird er schließlich mit einer Beförderung in die Leitung der KZ-Inspektion belohnt und nach Berlin geholt. Er glaubt an seine Aufgabe wie an eine soziale Utopie. Ob „die Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht“, darüber mochte er sich kein Urteil erlauben. Aber nicht ohne Stolz schreibt er, dass Auschwitz „nach dem Willen“ Himmlers unter seiner Leitung „die größte Menschen-Vernichtungsanlage aller Zeiten“ wurde.

Geburtsstunde der deutschen Holocaust-Forschung

Nach den Angeklagten, die zur Wirklichkeitserforschung wenig beitragen, haben die wissenschaftlichen Sachverständigen das Wort. Die Münchener Zeithistoriker Dr. Hans Buchheim, Dr. Helmut Krausnick, Dr. Martin Broszat und Dr. Hans-Adolf Jacobsen referieren über die Organisation der SS, der Polizei, der Konzentrationslager und über die nationalsozialistische Polen- und Judenpolitik. Ihre Gutachten werden später zweibändig veröffentlicht. Unter dem Titel „Anatomie des SS-Staates“ wurde ein gerichtlicher Gutachterauftrag zur Geburtsstunde der deutschen Holocaust-Forschung, die diesen Namen noch nicht kannte.

Wenn überhaupt, dann können die Auschwitz-Überlebenden mit ihren leidvollen Erfahrungen, ihren subjektiven Erinnerungen eine gewisse Vorstellung von dem schwer verständlichen Geschehen vermitteln. Mehr als 350 Zeugen werden gehört, ca. 1300 Personen waren bereits in der gerichtlichen Voruntersuchung vernommen worden. Vielzahl und Dichte ihrer Aussagen tragen zur Versachlichung einer emotional äußerst angespannten Atmosphäre bei. Sträubte sich mancher Richter anfangs gegen den zynisch-euphemistischen Lagerjargon, werden „Rampe“ und „Selektion“ oder „Muselmann“ und „Spritzen“ schnell geläufige Begriffe.

In seinem Schlussplädoyer nennt Staatsanwalt Kügler Auschwitz ein „Mordzentrum von unvorstellbarer Entsetzlichkeit“, das nur funktionieren konnte, weil Tausende gewollt zusammenwirkten. Ihre Untaten seien „von so ungezügelter und zugleich sachlich-bürokratisch organisierter Lieblosigkeit, Bosheit und Mordgier, dass niemand sie ohne tiefe Scham … überdenken“ könne. Sie hätten Deutschlands „Weg in eine freie und glücklichere Zukunft bis zur Unmöglichkeit erschwert“.

Tagtäglich gemordet, selektiert und vergast

Bevor die Angeklagten ihr Schluss- wort sprechen, bittet sie Senatspräsident Hofmeyer eindringlich um ein einsichtsvolles Wort. Vergeblich. Die Angeklagten bestreiten nicht, dass im Lager tagtäglich gemordet, selektiert und vergast wurde. Einige äußern ihr Mitleid mit den Opfern. Noch mehr aber bemitleiden sie sich selbst, sehen sich als Opfer, als „befehlsunterworfene Soldaten“. Nur zwei fallen heraus: der ehemalige Lagerarzt Dr. Lucas und Hans Stark. Dieser bekennt seine Schuld und bedauert seinen „damaligen Irrweg“.

In seiner Urteilsbegründung betont Hans Hofmeyer, dass das Gericht nicht berufen war, die NS-Vergangenheit zu bewältigen. Gleichwohl hat er dem Prozess geschichtspolitisches Gewicht gegeben. In seinem Urteil findet er Formulierungen, die für das Gedächtnis der Nachlebenden bestimmt sind. Erstmals wurde von einem deutschen Gericht festgestellt, wie die Vernichtungsfabrik Auschwitz funktionierte. Was Hannah Arendt über den Eichmann-Prozess schrieb, gelang auch dem Frankfurter Gericht, die „Rückverwandlung“ dieser maschinenhaften Befehlsempfänger in „Menschen“.

Nicht dem NS-Regime, nicht der Geschichte, sondern Personen wurde der Prozess gemacht. An ihren Lebens- und Karrierewegen aber begann die Geschichte anschaulich und der Judenmord für die nachlebenden Deutschen begreifbar zu werden – auch als ihre eigene Geschichte.

Wichtigste Frage wies über das Gericht hinaus- bis heute

Denn die vielleicht wichtigste Frage dieses Prozesses, wieso zumeist unbescholtene Bürger, Akademiker, Beamte, Kaufleute und Handwerker, zu den ihn nachgewiesenen Gräueltaten fähig waren – und danach wieder ins bürgerliche Leben zurückkehren konnten – , sie wies über das Gericht hinaus und zielte auf eine Selbstbefragung der Deutschen und eine Ortsbestimmung von Auschwitz in ihrer Geschichte.

Aber in ihrer Einstellung dazu sind sie gespalten: Ein Großteil von ihnen verlangt, dass die Deutschen endlich aufhören sollten, ihr „eigenes Netz zu beschmutzen“. Ein beachtliche Minderheit wünscht allerdings die Fortführung der Verfolgung von NS-Tätern. Eine neue Phase im Umgang mit dem Nationalsozialismus beginnt. Die Zeit der Leugnung und Bagatellisierung geht zu Ende.

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