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19. August 2013

Kinder-Psychologie: Zu viel des Guten

Von Carola Padtberg-Kruse, erschienen auf Spiegel Online, 14. August 2013. Eltern geben sich mit der Kindererziehung so viel Mühe wie nie zuvor. Und doch sind therapeutische Praxen voll mit verhaltensauffälligen Kindern. Woran liegt das? Kinderpsychiater sind sich einig: Überbehütete Kinder werden ebenso krank wie vernachlässigte. Die US-amerikanische Familientherapeutin Wendy Mogel interpretiert in ihrem Buch die jüdischen Schriften Tora und Talmud als Erziehungshilfen.

Noch nie wussten Eltern so viel über Erziehung, über die körperliche und seelische Entwicklung ihrer Kinder. Und sie geben sich mit dem Nachwuchs ordentlich Mühe, tun alles für ihre Kinder. Helikopter-Eltern werden sie genannt: die gluckenden Eltern, die auf alles aufpassen, ihren Kindern alles ermöglichen, wie ein Hubschrauber über den Köpfen der Kleinen kreisen.

„Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“, fordert jedoch Josef Kraus, Präsident des deutschen Lehrerverbandes, in seinem neuen Buch „Helikopter-Eltern“, das in den nächsten Wochen erscheinen wird. Umsorgende Eltern sollten aufhören, die Zukunft ihrer Kinder fest im Griff haben zu wollen.

Denn gleichzeitig gab es noch nie so viele verhaltensauffällige Kinder in den Praxen der Familientherapeuten. Immer mehr Eltern verzweifeln, fühlen sich mit der Erziehungsaufgabe überfordert. An gutem Willen fehlt es in den Familien nicht – doch woran dann? Kinder-Psychiater sind sich einig: Überbehütung kann ähnlichen Schaden in einer Kinderseele anrichten wie Vernachlässigung.

Entscheidend geprägt hat den Begriff der Überbehütung die US-amerikanische Familientherapeutin Wendy Mogel. Sie beschrieb im Jahr 2001, wie sie in ihrer Praxis moderne Eltern von umsorgten Mittelschichtkindern erlebt. „Von außen betrachtet, wirkt ihr Familienleben perfekt. Die Eltern besuchen jede Schulaufführung und jedes Fußballspiel ihrer Kinder. Sie wissen, dass sie am Spielfeldrand „Vorwärts, Leute“ rufen und nicht nur den eigenen Nachwuchs anspornen sollten. Sie kennen alle Freunde ihrer Kinder und die Berufe der Eltern. Wenn die Schulleistungen abfallen, organisieren sie Nachhilfe.“

Ängste und Erwartungsdruck

Doch in ihrer Erziehungsarbeit nehmen Helikopter-Eltern ihre Kinder zu wichtig. Sie konzentrieren sich sklavisch auf das „Mikromanagement“ der wechselnden Launen des Kindes – auf spontane Ängste und materielle Forderungen. Sie intervenieren bei Schulleitern und Lehrern und bügeln Fehler ihrer Kinder aus, bevor diese daraus lernen können. „Over-Parenting“ nennt Mogel dieses Phänomen, das so anstrengend sein kann, dass alle Beteiligten die Freude am Familienleben verlieren.

Die Kinder werden Bettnässer, entwickeln Essstörungen, ADHS oder massive Schulprobleme. Gleichzeitig, so Mogel, üben diese Eltern ungeheuren Bildungsdruck aus. Leistungen in der Schule und im Sport werden als wichtiges Familienerzeugnis interpretiert. Sie überfrachten das Kind mit einem Berg von Qualifikationen und spornen es zu Konkurrenz an.

Als Ausweg beschreibt Mogel die Erziehung zu emotionaler Stabilität, Widerstandsfähigkeit und Selbstständigkeit. In ihrem Buch interpretiert sie als Kennerin traditioneller jüdischer Lehren die jüdischen Schriften Tora und Talmud als Erziehungshilfen. Sie befürwortet feste hierarchische Familienstrukturen, empfiehlt Eltern aber gleichzeitig mehr Zurückhaltung in der Erziehung.

Kinder als Kompensation

In Deutschland wurde die Debatte um die richtige Erziehung von Kinderpsychiater Michael Winterhoff, 58, befeuert. In seinem Bestseller „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ schreibt er, dass immer mehr Jugendliche aus bürgerlichen Familien in Behandlung sind: Ergotherapie, Logopädie, Psychotherapie. Es sind Kinder von sehr engagierten, beziehungsfähigen Eltern, die alles für ihren Nachwuchs getan haben.

„Obwohl diese Bedingungen vorliegen, sind ihre Kinder gravierend auffällig. Ich erlebe Kinder im Altern von fünf bis sieben Jahren, die von jetzt auf gleich völlig ausrasten“, erklärt Winterhoff im SPIEGEL-Interview. Den Erwachsenen konstatiert er fehlende Orientierung und Anerkennung. Das Kind biete sich zur Kompensation an. „Wenn das Kind in der Schule zurechtkommt, bin ich eine gute Mutter, sonst eine schlechte. […] Der Erwachsene wird jetzt bedürftig, und das Kind soll die Bedürfnisse erfüllen.“

Winterhoffs Ausweg aus dem Dilemma: Der Erwachsene soll sein Kind nicht als Partner ansehen, sondern ihm Widerstand entgegensetzen. Dies würde die „natürliche Hierarchie“ zwischen Vater, Mutter und Kind wieder herstellen.

Fördern auf Biegen und Brechen

Der 2011 verstorbene Reformpädagoge und Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann kritisierte zwar die Lösungsansätze, die Winterhoff in seinem Buch empfahl. In der Beschreibung der Ausgangslage waren sich die die beiden Experten jedoch einig: Mehr Kinder werden schwierig und auffällig, es gibt mehr soziale und seelische Verfallserscheinungen.

„Verwöhnte Kinder sind in aller Regel unglücklich – und zeigen seltsamerweise dieselben Verhaltensprobleme wie vernachlässigte Kinder“, schrieb Bergmann in einem Beitrag für SPIEGEL ONLINE. „Kinder wollen sich in einem möglichst geordneten Umfeld zurecht finden und diese äußeren Ordnungen verinnerlichen, sie wollen sich in den Eigenarten, Gesten, Blicken, Stimmen ihrer Eltern ’spiegeln‘. Das Gefühl jedoch, dass sich die ganze Welt im Wesentlichen um sie dreht, raubt ihnen dieses Gegenüber.“

Anders als Winterhoff empfiehlt Pädagoge Bergmann aber weniger Disziplin und Gehorsam in der Erziehung, sondern gelassen-liebevollen Kontakt. Eltern sollten sich und ihren Kindern mehr zutrauen und sie keinem Konkurrenzdruck aussetzen. „Ein Ausweg ist sicher“, sagte Bergmann im Gespräch mit dem SPIEGEL, „dass wir mit den Kindern raus müssen aus der erzwungenen Rivalität, die schon in den Schulen alles beherrscht.“

„Diese Kinder kennen kein Mitgefühl“

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul, 65, der als Verfechter einer entspannten Erziehung gilt, beschreibt die Folgen von Überbehütung noch drastischer. Verwahrlosung, Ignoranz und Desinteresse, so argumentiert er, richteten gar weniger Schaden in Kinderseelen an als jener Narzissmus, der den Nachwuchs glücklich und erfolgreich sehen will, um sich selbst als kompetent zu erleben.

„In Dänemark nennen wir sie Curling-Eltern, weil sie wie beim Eisstockschießen alle Hindernisse vor ihrem Kind aus dem Weg räumen“, sagt Juul im Interview mit dem SPIEGEL. „Sie ersparen ihren Söhnen und Töchtern sogar den Anblick eigener Trauer, etwa beim Tod der Großeltern. Solche Kinder wissen nichts über andere Menschen und nichts über sich selbst. Sie wissen nicht, was es heißt, traurig oder frustriert zu sein, sie kennen deshalb kein Mitgefühl.“

Jesper Juul glaubt nicht an die Wirkung von Machtdemonstrationen. Für ihn geht es in der Erziehung darum, persönliche Maßstäbe und Überzeugungen vorzuleben. „Erziehung findet zwischen den Zeilen statt“, sagt er, „sie ist wie Osmose, sie kommt durch die Haut.“

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