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17. Oktober 2012

”Sensibilität für Antisemitismus nicht vorhanden”

Antisemitismus: Das Ressentiment der Mitte

Von Katja Tichomirowa, erschienen auf Frankfurter Rundschau Online, 17.10.2012. Die Bundesregierung stellt einen Expertenbericht über Antisemitismus in Deutschland vor. Etwa 20 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung denken antisemitisch.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) zitierte am Mittwoch im Bundestag einen erschreckenden Satz: „Ich bin kein Rechtsradikaler, aber irgendwann muss mal Schluss sein mit dem ewigen Ducken vor den Juden.“ Er entstammt einer der vielen Zuschriften, die Thierse zur Debatte über die Beschneidung jüdischer und muslimischer Kinder in Deutschland erhielt. „Ein prototypischer Satz“, befand Thierse, der ihn fragen lasse: „Wie viele Menschen in diesem Lande mögen so denken?“ Thierse kennt die Antwort auf diese Frage: Es sind 20 Prozent, „ein Fünftel der bundesdeutschen Gesellschaft“.

Verspätete Debatte

Der Antisemitismusbericht der Bundesregierung nennt diese Zahl. Eine unabhängige Expertenkommission hat ihn erarbeitet. Seit November liegt der Bericht vor.

Debattiert wurde das Ergebnis also mit fast einem Jahr Verspätung. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), der den Bericht am Mittwoch vorstellte, erinnerte in seinem Redebeitrag an die jüngsten Angriffe auf Juden in Deutschland, etwa die Attacke gegen den Rabbiner Daniel Alter vor sieben Wochen in Berlin. Vielleicht erinnerten die Angriffe den Bundesinnenminister aber auch daran, dass da noch ein Antisemitismusbericht darauf wartet, dem Bundestag vorgestellt zu werden.

Nun gebe es Streit, über das Zustandekommen dieser Zahl, sagte Friedrich. Doch entscheidend sei eben nicht die exakte Zahl der Antisemiten im Land, sondern die Tatsache, „dass es dieses Ressentiments wieder gibt und es mit unserer freiheitlichen Ordnung nicht vereinbar ist“. Friedrichs Fazit war zugleich der gemeinsame Nenner auf den sich alle Redner der Mittwochs-Debatte verständigen konnten. Der Minister allerdings mahnte zudem, dieses Ressentiment werde „auch von außen an uns herangetragen“. Der Bericht belege, dass es einen „islamistischen Antisemitismus“ gibt, sagte Friedrich.

Die übrigen Redner der etwa einstündigen Debatte zeigten sich indes deutlich beeindruckter von der Tatsache, dass der Bericht keinen Zweifel an der potenziellen Mehrheitsfähigkeit des Phänomens Antisemitismus lässt: Jeder sechste Deutsche stimmt demnach der Aussage zu, Juden hätten zu viel Einfluss in Deutschland. Jeder Achte findet, die Juden trügen eine Mitschuld an ihrer Verfolgung und 40 Prozent unterstellen ihnen, aus ihrer Verfolgung in der Vergangenheit Vorteile in der Gegenwart zu ziehen.

Der Antisemitismus suche sich in der Regel einen tagespolitischen Anlass, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck. „In diesem Jahr war es die Beschneidungsdebatte. Was ich in diesem Zusammenhang an Mails bekommen habe, hat mich erschüttert“, erklärte Beck. Auch vor Vergleichen der Beschneidung mit den Verbrechen des KZ-Arztes Mengele seien die Absender nicht zurückgeschreckt.

Ministerium prüft Konsequenz

Beck bedauerte, dass mit so großer Verspätung über den Bericht diskutiert werde. „Wenn wir aber schon so spät darüber diskutieren, dann hätte ich mir eine Antwort der Bundesregierung darauf erwartet, welche Empfehlungen der Expertenkommission sie nun wie umsetzen will.“ Stattdessen kündige der Bundesinnenminister lediglich an, man werde sie prüfen und vielleicht sei manches davon auch finanzierbar.
Thierse und Beck griffen immerhin eine Handlungsempfehlung der Kommission auf. Sie forderten, die Bundesprogramme gegen Extremismus kontinuierlich zu fördern. „Es ist ein bedauerlicher Umstand, dass engagierte Menschen Organisationen und Netzwerke gegen Extremismus einrichten, deren Mittel schon wieder auslaufen, wenn sie gerade begonnen haben zu arbeiten“, sagte Wolfgang Thierse. „Wenn wir verstanden haben, dass Antisemitismus ein kontinuierliches Problem in unserem Land ist, muss unsere Gegenstrategie auch ebenso nachhaltig sein“, sagte Beck.

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Roman Haller erzählt von seiner Geburt 1944 in einem Waldversteck in Polen, vom Aufwachsen in Deutschland, einem Land, das seine Eltern ermordet hätte, wenn es ihrer in der NS-Zeit habhaft geworden wäre, vom jüdischen Alltag zwischen Schwarzmarkt und Schulbank, Davidstern und Lederhose. Mit Humor schildert er, wie das Leben trotz allem weiterging und wie er seinen Platz im München der Nachkriegszeit fand. Weiterlesen »

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