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27. Februar 2012

Die arabischen Probleme gehören von nun an Europa

Ein Kommentar von Herbert Kremp, Welt Online, 27.02.2012. Zeitenwenden | Nicht nur südlich des Mittelmeers stehen in diesem Jahr entscheidende Wahlen an. Deutschland und Europa werden vor Herausforderungen ganz neuer Art gestellt. Wichtige Teile der Welt geraten 2012 unter die Spannung von Wahlen. Es handelt sich durchweg um Richtungs- und Mehrheitskorrekturen in der Folge schwerer Krisen – in den Vereinigten Staaten, im eurasischen Russland, im Maghreb, in Ägypten, auch im Iran, last not least in Europa: Frankreich, Griechenland, vielleicht auch Italien.

Was sich verändert hat, teilweise in dramatischen Formen, sucht Justierung, justiziellen und personellen Ausdruck. Legitimität wird hergestellt, nicht überall in lupenreiner Korrektheit, aber doch im formalen Wahlakt.

Abgesehen davon tauchen in diesem Jahr neue Machtfiguren in ganz anderen Systemfeldern auf. Das immer wichtiger werdende China wechselt den Staatspräsidenten, der seine Plenipotenz aus den Ämtern des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei und der mächtigen Zentralen Militärkommission bezieht. Xi Jinping, wie der Neue an der Stelle von Hu Jintao heißt, ist kein Produkt allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl nach Weststandard, aber doch beglaubigter als der rote Dynastenspross in der nordkoreanischen Nachbarschaft.

Xi Jinping kommt als einziger aus einem nahezu krisenfreien Zustand

Zu den wichtigen Beobachtungen zählt, dass der Auserwählte in China als einziger aus einem nahezu krisenfreien Zustand hervorgeht. Xi ist der dritte Führer nach dem berühmten Deng Xiao-ping, der ohne die früher üblichen kommunistischen Nachfolgekämpfe ans Ruder gelangt und als Funktionär der Parteielite gewissermaßen konservativ dem ungeschriebenen Vertrag zwischen Partei und Volk Genüge zu tun hat:

Wir, Politbüro, Zentralkomitee und Partei regieren – Ihr könnt Handel und Wandel nachgehen, reich und glücklich werden. Solange die Wirtschaft boomt, verheißt das Vermächtnis Dengs Stabilität, diese ist also in Erfolgen, nicht in ihrem Wert begründet.

Putin hält den Zerfall des Sowjet-Imperiums für einen GAU

Aber eigenartig ist dieses chinesische Phänomen schon – was taten eigentlich die Russen, dass ihnen mit dem Ende der sowjetischen Ära eine so vorteilhafte Wende misslang? Putin, der sich nach einem fast ridikülen Wechselspiel nun wieder zum Präsidenten küren lässt, hat dazu seine eigene Meinung. Er hält den Zerfall des Sowjet-Imperiums für den GAU des 20. Jahrhunderts und macht die alte Nomenklatura dafür verantwortlich.

Sie habe, im Unterschied zu Peking, die Politik nicht in der Hand behalten, sondern unter Jelzin beides fahren lassen: Parteiherrschaft und Wirtschaft. Deshalb besitze Russland keine „glückliche Vergangenheit“, keine Sowjetgrenzen und nur eine brüchige autokratische Tradition. Trotz reichen Öl- und Gasflusses gehört es zu den Krisenzonen, daran ändern die Wahlen nichts.

Obama ist ein milder Sozialdemokrat

Auch der US-Präsident, der um Bestätigung ringen muss, fragt sich, was in die geordnete, nicht zuletzt wirtschaftshegemoniale West-Welt gefahren ist, dass Amerika in finanzielle Abhängigkeit des raketengleich aufgefahrenen Chinas geriet. Westliche Krisen sind offen und daher behandelbar. Obama kennt Roosevelts Ringen mit der Großen Depression. Die Stolpersteine des Kopfsteinpflasters reichten von 1929 bis 1939, bis zum europäischen Krieg.

Unter den besonderen Umständen wurde Roosevelt viermal gewählt. Ihm gegenüber ist Obama ein milder Sozialdemokrat. Längst hat er die Churchill-Büste im Oval Room durch ein Bildnis Martin Luther Kings ersetzt. Er führt poetische Wahlkämpfe und muss prosaisch regieren („Campaining in poetry, governing in prose“), auch singt er gelegentlich.

Das Land muss, wie man an den elektrischen Leitungen sieht, in der Tiefe reformiert, infrastrukturell aufgebaut werden. Die Bündniszeiten sind vorbei, in Afghanistan löst sich ein letzter Tatort auf. Die transatlantischen Beziehungen waren nie einfach, zwischen Kennedy und Adenauer herrschte Misstrauen, zwischen Schmidt und Carter Funkstille. Aber damals gab es noch den Kalten Krieg, Raketen, verbindende Weltrealität.

Beim Wahlkampf 2012 indes tritt mit den Konkurrenten Mitt Romney und Rick Santorum die wachsende binnenideologische Zerklüftung, eine Art Religionsstreit, hervor. Für die Rechten ist Obama „liberaler Zelot“, für die eigenen Linken ein „Anpasser“. Und bald wird es wieder darum gehen, den Schuldendeckel anzuheben oder die Staatszahlungen einzustellen.

„Merkosy“ hat wirklich nicht die Mehrheit in Frankreich

In den Fragen der Wirtschafts- und Schuldenkrisenbekämpfung gibt es keine Atlantik-Brücke. Notenbank-Chef Bernanke zieht aus seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Großen Depression von 1929 den Schluss, seine Welt mit Geld zu fluten. Der Amerika-freundliche Nicolas Sarkozy aber, anfangs zur Geldschöpfung aufgelegt, bestreitet seinen Wahlkampf 2012 mit musterhafter deutscher Sparpolitik.

Für Frankreich ist die ungewöhnliche Zuwendung so verblüffend, dass der Mitterrand-Schüler François Hollande das Rennen machen könnte – „Merkosy“ hat wirklich nicht die Mehrheit in Frankreich. Als Wirtschaftsberater Mitterrands seit 1981 im Elysée, fuhr Hollande Frankreichs Ökonomie gegen die Wand. Lieber noch einmal, als das französische Staatsverständnis germanisieren? Poesie und Prosa der Parti Socialiste gilt Frankreich, den Euro-Bonds, dem Blockieren der Schuldenbremse.

Nationale Differenz lädt sich konflikthaft auf

Die Wahlkämpfe decken auf, dass gegenseitige Missgunst in der Europäischen Union zunimmt. Nationale Differenz lädt sich konflikthaft auf. Wie werden sich die griechischen, dann die italienischen Wähler nach den Beamtenregierungen entscheiden: für Austerity oder den radikalen Widerspruch, also gegen die „Teutonen“, die fiskalischen Vögte? Deutschland ist für die Hegemonie zu schwach, für den Frieden zu reich.

Dabei gäbe es für Europa wahrlich Wichtigeres als Ressentiments, denn brisant sind die Außenaspekte. Für die „Arabellion“, die sich 2012 in Wahlen im gesamten Maghreb und in Ägypten vollenden soll, in Syrien vielleicht im Tyrannensturz, schwärmte die Poesie in hohen Tönen.

Doch nun werden, was anfangs niemand glauben wollte, die Moslembrüder in ihren unterschiedlichen Motiven und Zielen überall dominieren, und für die Amerikaner steht so gut wie fest, dass die arabischen Probleme von nun an Europa „gehören“. Die politischen Signale des bedeutenden Wahljahres lassen Zweifel aufkommen, ob Europa dieser Herausforderung mächtig wird.

Die auf der Website veröffentlichten Kommentare geben nicht grundsätzlich den Standpunkt der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern wieder, sondern sollen einen Überblick über den öffentlichen Meinungsbildungsprozess sowie die gesellschaftliche und politische Diskussion gewährleisten.
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