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1. Februar 2018

Meinung | »›Nie wieder‹ reicht nicht«

Das Gedenken an die Schoa darf niemals nur Selbstzweck sein, sonst ist es wohlfeil und folgenlos. Von Charlotte Knobloch, erschienen in der Jüdischen Allgemeinen vom 1. Februar 2018. Wir stehen an der Schwelle zu der Zeit ohne Zeitzeugen, ohne Erlebnisgeneration. Mit den Zeitzeugen verliert die Welt den unmittelbaren Bezug zur Vergangenheit. Nur sie konnten und können das Unbegreifliche am einzelnen Schicksal, am eigenen Schicksal, mit dem Gewicht der Erfahrung annähernd zur Sprache bringen. Das wird unwiederbringlich verloren gehen und eine Lücke hinterlassen, die durch nichts und niemanden zu füllen ist.

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch in der KZ-Gedenkstätte Dachau. © Marina Maisel

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch in der KZ-Gedenkstätte Dachau. © Marina Maisel

 

Das stellt die Generation der Nachgeborenen, die Erkenntnisgeneration, vor die gewaltige Aufgabe, unsere gewachsene Kultur des Gedenkens und der Erinnerung an das singuläre Menschheitsverbrechen klug und nachhaltig weiterzuentwickeln. Die Heutigen müssen die Botschaft der Überlebenden beherzigen und bewahren und sich ihrer Verantwortung bewusst sein – im Gedenken an die Opfer und in der Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft.

Bewusstsein

Auf politischer Ebene wird die Bundesrepublik Deutschland ihrer besonderen erinnerungskulturellen Verantwortung ge­recht. Das kommt nicht nur in den auf vielen verschiedenen Ebenen institutionalisierten und wichtigen Ritualen des Gedenkens zum Ausdruck, sondern spiegelt sich etwa auch in dem jüngsten Bundestagsbeschluss »Antisemitismus entschlossen bekämpfen«, der die besondere Verantwortung Deutschlands betont. Dennoch belegen sowohl die gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngeren Zeit als auch mehrere Untersuchungen, dass das Geschichtsbewusstsein hierzulande nicht in ausreichendem Maße ausgebildet wird.

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass eine sich offen rechtsradikal und rassistisch gerierende, völkisch-nationalistische Kraft, die geschichtsklitternde Antisemiten und Leugner des Holocaust in ihren Reihen nicht nur duldet, sondern hält, zur drittstärksten Partei in unserem Land werden konnte. Ihre Zustimmung zum oben erwähnten Bundestagsbeschluss ist nichts als Augenwischerei und der schäbige Versuch, die berechtigten Ängste der jüdischen Gemeinschaft für die eigene rassistische Islamfeindlichkeit zu instrumentalisieren.

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass Antisemitismus hierzulande wieder ein Ausmaß angenommen hat, das die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland ernsthaft gefährdet. Das Phänomen breitet sich seit Jahren im rechtsextremen ebenso wie im linken Spektrum aus und ist auch in der Mitte der Gesellschaft tief verwurzelt. Hinzu kommt der regelrechte Judenhass, der unter hier lebenden Muslimen herrscht und aus dem arabischen und muslimischen Ausland bestärkt wird. Der Blick nach Schweden oder Frankreich zeigt uns eine Unheil verkündende Warnung.

Anders kann ich es mir nicht erklären, dass Umfragen zufolge knapp die Hälfte der Schüler ab 14 Jahren nicht weiß, wofür der Begriff »Auschwitz-Birkenau« steht. 81 Prozent der Deutschen geben an, die Geschichte der Judenverfolgung »hinter sich lassen« zu wollen.

Missstände

Die Gleichgültigkeit in nennenswerten Teilen der Bevölkerung angesichts dieser Missstände und Fehlentwicklungen treibt mich um. Über viele Jahre glaubte ich, eine stete Verbesserung zu beobachten. Sogar eine »Normalität« im jüdisch-nichtjüdischen Miteinander schien in greifbare Nähe zu rücken. Derzeit ist sie wieder in weiter Ferne. Die Gleichgültigkeit war in den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts verheerend. Unsere demokratischen Gesellschaften dürfen sie sich in keiner Weise erlauben.

Gedenken und Erinnern dürfen niemals nur Selbstzweck sein, leere Symbolik, bloße Routine. Erinnern muss Erkenntnisse zutage fördern und konkrete Denk- und Handlungsprämissen zur Folge haben – alles andere ist nutzlos. Unsere freiheitliche, als eine wehrhafte konstituierte Demokratie basiert auf den Lehren aus der Geschichte.

Die Verantwortlichen in Politik und vielen Bereichen der Gesellschaft haben das verinnerlicht. Aber in weiten Teilen der Gesellschaft ist das Bewusstsein für die aus der Vergangenheit resultierende Verantwortung nicht mehr vorhanden – oder sie wird schlicht abgelehnt.

Integration

Aus diesem Grund fordere ich eine gründliche Evaluierung der bestehen den Lehrpläne, eine gründliche Evaluierung der erinnerungskulturellen Maßnahmen, der Module in der politischen Bildung und nicht zuletzt der Integrationskurse. Denn jeder, der in Deutschland lebt, muss wissen, dass er in einem Land mit besonderer Vergangenheit lebt und in einer besonderen Verantwortung steht. Das gilt gleichermaßen für Einheimische wie diejenigen, die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind und in Deutschland eine Heimat finden wollen.

Nachhaltiges, kluges Erinnern schlägt eine Brücke in die Gegenwart und geht zudem mit Erkenntnissen einher, mit klaren Grundsätzen für unser Denken und Handeln im Heute. Wer sich nicht erinnern will, wer nicht bereit ist, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, läuft Gefahr, die Fehler von einst zu wiederholen – mit aller zerstörerischen Wirkung für Menschenleben, Freiheit und Demokratie.

Die Autorin des Meinungsbeitrags ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.

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Oktober 2025 | Tischri-Cheschwan | « »

Aktuelle Veranstaltungen


So. 12.10.2025 | 20. Tischri 5786

Kultur

„Sputnik“: Lesung und Gespräch mit Christian Berkel

Beginn 17:00

Buchpräsentation
Sonntag, 12. Oktober 2025, 17 Uhr

Moderation: Günter Keil

Am 4. Oktober 1957 erreichen die ersten Satelliten die Erdumlaufbahn. Kurz darauf erblickt in Westberlin Sputnik das Licht der Welt. Er wächst auf zwischen den Geschichten seiner Mutter Sala und den Büchern seines Vaters Otto. Eine wichtige Lebensstation wird Paris, wo er nicht nur zur Schule geht, sondern Theater und Varieté für sich entdeckt. Die Rückkehr nach Deutschland fällt in eine Umbruchszeit auch der Theaterwelt der 70er Jahre. Eine wilde Phase des Experimentierens bricht an, bis Sputnik wie so viele vom Mauerfall 1989 überrollt wird. Und zu ahnen beginnt, wer er ist, oder zumindest, wer er sein könnte. In seinem dritten Roman begibt sich Christian Berkel erneut auf eine sehr persönliche Spurensuche, die bis in eine erschreckend veränderte Gegenwart führt. Weiterlesen »

Sa. 18.10.2025 | 26. Tischri 5786

Kultur

26. Lange Nacht der Museen in München

Beginn 20:30

Vortrag und Konzert
Beitrag der IKG München und Oberbayern zur Langen Nacht

Samstag, 18. Oktober 2025, 20:30–23:00 Uhr

Auf einen Blick:

Vorträge (je 30 Minuten)

  • 20:30 Uhr: Dr. Elisabeth Rees-Dessauer
  • 21:45 Uhr: Ellen Presser

21:00 und 22:15 Uhr: Konzert des Synagogenchors unter Leitung von David Rees (je 30 Minuten), Begleitung am Piano: Luisa Pertsovska Weiterlesen »

Mo. 03.11.2025 | 12. Cheschwan 5786

Kultur

Mit Dmitrij Kapitelman: „Russische Spezialitäten“

Beginn 19:00

Buchpräsentation und Gespräch
Montag, 3. November 2025, 19 Uhr

Moderation: Ellen Presser

Eine ukrainisch-jüdisch-moldawische Familie, lebt in Leipzig, wo sie russische Spezialitäten verkauft. Und zwar an Osteuropäer, die sich zwischen russischen Flusskrebsen, ukrainischem Wodka und georgischen Sonnenblumenkernen zuhause fühlen. Doch seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nichts mehr wie zuvor. Die Mutter glaubt den Propagandasendungen des russischen Fernsehens. Ihr Sohn, der keine Sprache mehr als die russische liebt, keinen Menschen mehr als seine Mutter, keine Stadt mehr als Kyjiw, verzweifelt. Um seine Mutter zur Vernunft zu bringen, begibt er sich per Flixbus nach Kiew. Oder wie man inzwischen liest: Kyjiw, von wo er ihr die Wahrheit mitzubringen hofft. Weiterlesen »

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