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23. April 2017

Kleine Zettel, großer Hass

Das NS-Dokumentationszentrum München zeigt in einer Sonderausstellung antisemitische und rassistische Aufkleber. Von Helmut Reister, erschienen in der Jüdischen Allgemeinen vom 16.03.2017. Ende des 19. Jahrhunderts tauchten sie zum ersten Mal vereinzelt auf, wurden dann schnell zur Massenware und überstanden alle gesellschaftlichen Entwicklungen, sogar die Digitalisierung der Kommunikation: Aufkleber, Marken und Sticker, die Judenfeindlichkeit, Rassismus und Hass gegen Minderheiten propagieren.

Die vergangene Woche eröffnete Ausstellung „Angezettelt“. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute im NS-Dokumentationszentrum widmet sich der Geschichte der kleinen Klebezettel mit der großen Wirkung, die sich auf beunruhigende Weise im öffentlichen Leben manifestiert haben.

Ende des 19. Jahrhunderts tauchten die Sticker zum ersten Mal auf. © Marina Maisel

Ende des 19. Jahrhunderts tauchten die Sticker zum ersten Mal auf. © Marina Maisel

 

Die Ausstellung wurde vom NS-Dokumentationszentrum München gemeinsam mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg konzipiert und realisiert. Welche Absichten mit dem Projekt verfolgt werden, machen die Organisatoren klar: »Die Ausstellung will den Blick schärfen für Bilder, Parolen und Symbole und dazu anregen, sich mit tradierten und neuen Erscheinungsformen von Antisemitismus und anderen menschenfeindlichen Ressentiments auseinanderzusetzen.«

Wirkung

„Angezettelt“ basiert auf den Erkenntnissen des vor drei Jahren abgeschlossenen kulturhistorischen Forschungsprojekts »Sticker und Stigmata« der Kuratorin Isabel Enzenbach am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. In dessen Rahmen wurden Gebrauch, Bildsprache, Wirkung und Rezeption antisemitischer und rassistischer Aufkleber und ähnlicher Kleindrucksachen eingehend untersucht. Um die wissenschaftlichen Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wurde daraus diese Ausstellung entwickelt.

Forschungsprojekt und Ausstellung stützen sich auf die wohl umfassendsten Privatsammlungen zum Thema: die Berliner Kollektionen von Wolfgang Haney und Irmela Mensah-Schramm sowie die Sammlungen im Bundesarchiv und verschiedenen Landesarchiven. Während Haney sich in seiner jahrzehntelangen Sammelleidenschaft auf historische Beispiele aus aller Welt spezialisiert hat, ist Mensah-Schramm seit über 30 Jahren auf der Jagd nach aktuellen Stickern, die sie persönlich mit dem Spachtel von Laternenpfählen, Strommasten oder Sicherungskästen entfernt und mit Datum und Fundort versehen archiviert. Ein knappes Dutzend ihrer Aktenordner, in denen die deutschlandweiten Hassbotschaften dokumentiert sind, werden in der Ausstellung gezeigt.

Die Schau umfasst Aufkleber vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. © Marina Maisel

Die Schau umfasst Aufkleber vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. © Marina Maisel

 

Irmela Mensah-Schramms Engagement gegen Rechtsextremismus hat der couragierten Seniorin, die auch schon mehrere Male in München aktiv geworden ist, eine Menge persönlicher Anfeindungen eingebracht – und eine gerichtlich verhängte Geldstrafe, gegen die sie aber juristisch vorgeht. 1800 Euro soll sie wegen der »gewaltsamen Entfernung« eines Aufklebers bezahlen. »Ich soll für die Sachbeschädigung einer Sachbeschädigung bezahlen«, so kommentiert sie den Strafbefehl der Berliner Justiz gegen ihr Engagement.

Gefahr

In der Ausstellung sind außerdem sechs Thementafeln zu sehen, für die eigens historische und aktuelle Beispiele aus München und Bayern recherchiert wurden. In der »Hauptstadt der Bewegung« spielten die kleinen Klebezettel mit den Hassbotschaften eine besonders herausragende Rolle bei der Vermittlung der NS-Ideologie. Winfried Nerdinger, Direktor des NS-Dokumentationszentrums, wies bei der Eröffnung der Ausstellung auf die mobilisierende Kraft der kleinen Druckerzeugnisse hin, die auch die eigentliche Gefahr darstelle. Mit solchen Zetteln habe es begonnen, mit dem Holocaust habe es geendet, benannte Nerdinger die geschichtliche Dimension.

Das NS-Dokumentationszentrum bietet während der gesamten Laufzeit der Ausstellung ein breit gefächertes Veranstaltungs- und Bildungsprogramm an. Neben der Kuratorin Isabel Enzenbach und der Sammlerin Irmela Mensah-Schramm beteiligen sich renommierte Historiker wie Stefanie Schüler-Springorum, Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin, und Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Für Diskussionen und dialogische Rundgänge konnten unter anderem der Buchautor Ibraimo Alberto, der Rechtsextremismusexperte Robert Andreasch und der Gemeinderat Omid Atai gewonnen werden. Sie werden über ihre Erfahrungen mit Rassismus im Alltag und Fremdenfeindlichkeit in der Öffentlichkeit sprechen. Ebenso werden individuelle und gesellschaftliche Möglichkeiten der Abwehr antisemitischer und rassistischer Hetze aufgezeigt und diskutiert.

Für Schulklassen, Multiplikatoren und andere Gruppen hat das NS-Dokumentationszentrum Workshops, Seminare und Rundgänge konzipiert, die das Thema Antisemitismus aus unterschiedlicher Perspektive behandeln. Die verschiedenen Angebote sind für Schulklassen ab der 9. Jahrgangsstufe (Mittelschule 8. Jahrgangsstufe) bis zur Oberstufe und für Erwachsene geeignet.

www.ns-dokuzentrum-muenchen.de/sonderausstellung/aktuell

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