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6. Mai 2014

Der Staatsanwalt, der Deutschland veränderte

Mit der Rehabilitierung des Widerstandskämpfers Stauffenberg und dem Auschwitz-Prozess prägte Fritz Bauer die Bundesrepublik. In Frankfurt ehrt jetzt eine Ausstellung den vergessenen Demokraten. Von Jan Schapira, erschienen auf Die Welt Online, 6.5.2014.

Nichts weiter als eine dreiste Lüge war die Stunde Null. Einen Neuanfang hat es nach der Nazi-Zeit in Deutschland nie gegeben. Niemand wusste das so gut wie Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich Feindesland“, soll Bauer gesagt haben.

Man kann sich das vorstellen. Die allermeisten Richter, Anwälte und Ankläger der Nazi-Zeit behielten auch in der Nachkriegszeit ihre Ämter. Naturgegeben zeigten sie keinen Eifer darin, Taten zu ahnden, die von 17 Millionen Deutschen in der Wehrmacht, von 700.000 in SS und Waffen-SS, von vier Millionen SA-Angehörigen und von 8,5 Millionen NSDAP-Mitgliedern begangen worden waren. Ein Staatsanwalt wie Bauer, der Völkermord und Verbrechen nicht auf sich beruhen ließ, konnte da nur stören.

Dass es in dem autoritären und obrigkeitshörigen Deutschland der Nachkriegszeit überhaupt eine Beschäftigung mit dem Nazismus gab, dass einigen wenigen Tätern wie Adolf Eichmann der Prozess gemacht wurde, dass Auschwitz zur Chiffre für den Mord an Millionen Menschen wurde, dass Claus Schenk Graf von Stauffenberg nicht weiter als Landesverräter diffamiert werden durfte – kaum einer hat an der Erziehung der Deutschen zu humanistischen Werten solch großen persönlichen Anteil wie Fritz Bauer.

Der „Landesverräter“ Stauffenberg

Das Jüdische Museum Frankfurt ehrt ihn in einer Ausstellung nicht nur als unermüdlichen und geschickten Strafverfolger. Das war er auch. Vor allem erscheint Fritz Bauer in der gut gemachten, chronologisch gegliederten Schau aber als politisch denkender Mensch, der nach zwölf Jahren Exil 1949 ins kriegszerstörte Deutschland zurückkehrt. Als Jude, Sozialdemokrat und unbeugsamen Richter hatten ihn die Nazis verfolgt, jetzt will er beim demokratischen Wiederaufbau mithelfen.

Mit dem Prozess gegen Otto Ernst Remer gelingt Bauer sein erster großer Coup als Generalstaatsanwalt. Remer ist nach dem Krieg nicht nur Vorstandsmitglied der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei, als Major leitete er nach dem Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 auch die Niederschlagung des Widerstandes in Berlin.

Im niedersächsischen Wahlkampf 1951 bezeichnet er den von den Nazis hingerichteten Stauffenberg öffentlich als vom Ausland bezahlten „Landesverräter“. Damit vertritt Remer keine Einzelmeinung, er weiß sich einig mit Soldatenverbänden und dem Landgericht München, das in einem Urteil den Widerstand des 20. Juli als „Verrat“ bewertet hatte.

Die Pflicht „Nein“ zu sagen

Bauer verklagt Remer dennoch auf „üble Nachrede“. Er will so beweisen, dass es sich bei der Bezeichnung als „Landesverräter“ nicht nur um eine Beleidigung handelt, sondern um eine Unwahrheit. Vorrangiges Prozessziel Bauers ist dabei nicht die Verurteilung Remers – dieser erhält letztlich eine Gefängnisstrafe von drei Monaten – sondern die Rehabilitierung des vielfach geschmähten Widerstands gegen Hitler.

In seinem Plädoyer argumentiert Bauer, dass die Angehörigen des Widerstandskreises 20. Juli ihren soldatischen Eid-Schwur auf Hitler überhaupt nicht brechen konnten. Denn ein solcher Eid auf eine einzelne Person sei an sich unzulässig gewesen. „Unbedingten Gehorsam“ könne es nur gegenüber höheren Werten geben, mithin Gott, Gesetz oder dem Vaterland.

Später spricht Bauer immer wieder von der Pflicht des Einzelnen sich zu verweigern: Nein zu sagen zu Befehlen gegen die Menschlichkeit, Nein zu sagen gegen unmoralische Autoritäten. Bauers moralischer Imperativ der Verweigerung ist konträr zur weitverbreiteten Ausrede vieler Nazis nur gewissenhaft ihre Befehle befolgt zu haben.

Die verheimlichte jüdische Herkunft

Der Remer-Fall leitet in der Bewertung des 20. Juli eine Wende ein. Und Bauer beweist mit seiner Verteidigung von Stauffenberg politisches Geschick: Er setzt sich nicht für die Rehabilitierung von diffamierten linken Widerständlern ein – etwa der Roten Kapelle, die ihm als Sozialdemokraten politisch wohl näher gestanden hätte. Ebenso versucht Bauer seine eigene Herkunft aus einer jüdischen Familie vergessen zu machen, um den antisemitischen Klischee der Nachkriegszeit vom jüdischen Rächer keine Nahrung zu geben.

Nie verweist er auf sein eigenes Leiden während der acht Monate im Konzentrationslager 1933. Zur jüdischen Gemeinde hält er ebenso Abstand wie zu jüdischen Überlebenden. Den adligen, konservativen Offizier Stauffenberg präsentiert er der deutschen Öffentlichkeit als rechtschaffenden Widerstandskämpfer, entgegen seiner eigenen privaten Vorbehalte: In einem Brief schreibt er einem Freund, Stauffenberg habe den Anschlag auf Hitler 1944 „nicht aus einem ethnisch oder politischen Antinazismus, sondern aus der Tatsache, dass Hitler den Krieg verliert“ verübt.

Bauer ist alles andere als ein politischer Traumtänzer. Als Bauer von dem Aufenthaltsort von Adolf Eichmann in Argentinien erfährt, behält er diese Information für sich. Er weiß, dass die Einbeziehung der deutschen Behörden eine Verhaftung Eichmanns unmöglich machen würde. Zu oft hat der Frankfurter Generalstaatsanwalt erlebt, wie flüchtige Nazis durch alte Kameraden innerhalb des deutschen Strafverfolgungsapparats gewarnt wurden.

Eichmann und der israelische Geheimdienst

Stattdessen wendet er sich mit der brisanten Informationen an den israelischen Geheimdienst. In Deutschland weiß davon außer ihm nur sein SPD-Parteigenosse, der damalige hessische Ministerpräsident Georg-August Zinn. Dass der epochemachende Prozess in Jerusalemgegen Eichmann, den Organisator des Massenmordes an den Juden, letztlich auf einen Tipp von Fritz Bauer zurückgeht, erfährt die Öffentlichkeit erst nach dessen Tod 1968.

Bauer will Deutschland verändern. Immer wieder vertritt er seine Ansichten in Talkshows, stets mit Zigarette in der Hand. Ebenso tritt er publizistisch in Erscheinung. Viele seiner Positionen, die im Deutschland der Adenauer-Ära revolutionär waren, gehören heute zum common sense: Er fordert ein humaneres Strafrecht, ihm geht es um Resozialisierung, nicht um Strafe. Die Ursachen von Kriminalität selbst sollen abgeschafft werden. Bauer spricht sich – er ist selbst schwul – gegen die Strafverfolgung von Homosexuellen aus.

Ebenso kritisiert er autoritäre und gewaltsame Erziehung von Kindern. Und die Gerichtsverhandlungen über die Nazi-Vergangenheit, sollen den Weg zu einer neuen Gegenwart bahnen. Wie im Prozess zur Diffamierung von Stauffenberg geht es Bauer auch bei den Auschwitz-Verhandlungen primär um die öffentliche Debatte und einen demokratischen Wandel: „Der Prozess soll der Welt zeigen, dass ein neues Deutschland, eine deutsche Demokratie gewillt ist, die Würde eines jeden Menschen zu wahren.“

Der Auschwitz-Prozess

Der Auschwitz-Prozess, der am 12. Juli 1961 in Frankfurt beginnt, wird der größte Prozess in der Geschichte der deutschen Strafjustiz. Zwei Jahre dauern die Ermittlungen im Vorfeld, zwanzig Monate die Verhandlungen selbst. 700 Seiten umfasst die Klageschrift. 250 Zeugen werden im Prozessverlauf gehört. 22 Personen werden angeklagt. Bei der Auswahl der Angeklagten achtet Bauer darauf, dass sie einen Querschnitt der Lagerhierarchie abbilden, dass es sich sowohl um hohe als auch um niedrige Dienstgrade handelt.

Denn jeder, so argumentiert Bauer, der in Auschwitz Dienst tat, machte sich der Mittäterschaft schuldig. Noch die Person in der Kleiderausgabe habe sich, als Rädchen im Getriebe, an einem Massenmord beteiligt. Nur durch das arbeitsteilige Zusammenwirken der vielen, einzelnen SS-Leute habe Auschwitz als Tötungsmaschinerie funktionieren können. Der Nachweis einer individuellen Motivation zum Mord müsse deshalb den einzelnen Beklagten nicht nachgewiesen werden.

Das Frankfurter Gericht folgt Bauers Argumentation nicht. Sie verurteilt die Täter im Sinne des Strafgesetzbuches als normale Kriminelle: Jedem einzelnen SS-Mann müssen individuell Tat und Tatvorsatz nachgewiesen werden. Selbst der stellvertretende Lagerkommandant Robert Mulka, der vor Gericht behauptet nichts von den Vergasungen gewusst zu haben, wird so nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.

Als Fritz Bauers „Hauptwerk“ bezeichnet den Auschwitz-Prozess sein Biograph Ronen Steinke. Dabei war Bauer selbst von der öffentlichen Resonanz auf die in den Verhandlungen geschilderten Grausamkeiten enttäuscht. „Minimal“ sei der „erzieherische Effekt“ gewesen, sagte Bauer. In einer damaligen Umfrage sprachen sich 63 Prozent aller Männer und 76 Prozent aller Frauen dafür aus, Naziverbrechen nicht weiter zu verfolgen. Trotzdem war der Auschwitz-Prozess eine Zäsur. Erstmals war der deutschen Öffentlichkeit die Systematik des Konzentrationslagers vor Augen geführt worden.

Fritz Bauer. Der Staatsanwalt. Bis 7. September 2014 im Jüdischen Museum Frankfurt

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