Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

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11. April 2014

„Erinnerung ist unkündbar“ – Pessach-Grußwort von Charlotte Knobloch

Vor wenigen Wochen haben wir in unserem Fundus spezielle Ausgaben der Pessach-Haggada gefunden. Die rund 100 gehefteten Büchlein wurden in den frühen 1940er- und 50er-Jahren für die jüdischen Angehörigen des US-Militärs hergestellt. Ein Zufallsfund? Eher ein Zeichen: Es ist unerlässlich, sich die Vergangenheit immer wieder vor Augen zu führen und in diesem Bewusstsein die Gegenwart zu analysieren.

BEFREIUNG

Wir Juden leben diese gute Tradition des Erinnerns – besonders an Pessach. Bewusst fühlen wir das Geschehene nach, erinnern der Befreiung und des beschwerlichen Wegs durch die Wüste. Das Konzept der Erinnerung prägte das jüdische Denken entscheidend. Es ist Wesenselement des jüdischen Selbstverständnisses.

Charlotte Knobloch überreichte im US-Generalkonsulat die historischen Haggadot an Generalkonsul William E. Moeller (l.) und Colonel James Saenz. © US-Generalkonsulat München

Zu Pessach wird der Einzelne mental selbst Teil der Vergangenheit. Mittels der symbolträchtigen Speisen werden wir an den Sederabenden im Geiste selbst zu Sklaven. Wir befreien uns. Wir begeben uns auf den Weg in die Freiheit, die Selbstbestimmung. Wir beginnen diese Reise in Ägypten und beenden sie in unserer Gegenwart. Nicht die Historizität der vergangenen Ereignisse steht im Fokus, sondern deren Repräsentation im Hier und Heute. Über das Vergegenwärtigen der Geschichte vollziehen wir an Pessach wie an anderen Feiertagen einen Erkenntnisprozess für unser aktuelles Denken und Handeln.

In diesem Gedenkjahr 2014, in dem so viel über Geschichte gesprochen wird wie lange nicht – und das ist gut so –, kann dies als »best practice« dienen. Der Mensch braucht Erinnerung. Sie ist unkündbar. In Deutschland führt sie uns die Zerbrechlichkeit von Frieden, Freiheit und Demokratie vor Augen. Zum Glück scheint es, als habe man aus der Geschichte gelernt. Der Umgang mit den Entwicklungen auf der Krim belegt dies. 1914 hätten in dieser Situation die politischen und militärischen Anführer sofort an Krieg gedacht und mobilgemacht. Heute ist dies kein gangbarer Weg mehr. Angestrengt und unermüdlich wird an Telefon und Verhandlungstisch nach Lösungen gesucht.

Generell gilt: Es gibt ein dichtes Geflecht an Möglichkeiten, die weltweit existierenden Krisen zu deeskalieren. Diese auszuloten und umzusetzen, ist die Verpflichtung jedes verantwortungsbewussten Politikers. Und auch der einzelne Bürger ist gefordert – und zwar hinsichtlich des Miteinanders in unserer Gesellschaft, die von Zivilcourage lebt. Ich wünsche mir, dass wir Verantwortung füreinander übernehmen, dass wir hinhören und hinsehen, was in unserem Umfeld und unserem Land vor sich geht. Zu viele »Einzelfälle« von Menschenverachtung haben Einzug in unseren Alltag gehalten: Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierungen verschiedenster Art. Bis in die breite Mitte der Gesellschaft hat man sich an sie gewöhnt.

ALARMSIGNAL

In ganz Europa finden sich wieder mehr rechtsextreme und partikulierende Tendenzen. Der Erfolg der offen antisemitischen und fremdenfeindlichen Jobbik-Partei in Ungarn ist ein Alarmsignal. Rechtspopulisten könnten rund 25 Prozent der Sitze in der künftigen Straßburger Abgeordnetenkammer belegen, schätzen Experten. Im Kampf gegen ihr Gedankengut sind alle demokratischen Kräfte gefordert. Der beginnende Europawahlkampf darf nicht zur Plattform für Rechtsextreme werden – erst recht nicht in Deutschland, wo der Wegfall der Drei-Prozent-Hürde ihnen Tür und Tor ins EU-Parlament geöffnet hat.

Menschenverachtung ist niemals harmlos. Jedem Anfang ist zu wehren. Da sollten wir, wenn nicht klüger, so doch wachsamer sein als vor 70 Jahren. Geschichtsverdrossenheit und Leichtfertigkeit führen zu neuem Versagen – national wie international. Dieses Gedenkjahr gibt uns die Chance, endlich ein prozesshaftes Erinnern zu etablieren – inmitten jener Zeitenwende, in der Holocaust und Zweiter Weltkrieg von Zeitgeschichte zu Geschichte werden.

Nun muss sich das historische und gesellschaftspolitische Desiderat realisieren, dass die Erlebnisgeneration den Stab der Erinnerung an die Erkenntnisgeneration übergibt. Eine Erkenntnisgeneration, die die Formel »Nie wieder!« nicht zu einer leeren Hülse verkommen lässt, solange wir täglich in den Nachrichten des Gegenteils von »Nie wieder!« ansichtig werden. Eine Erkenntnisgeneration, die die Geschichte eigeninitiativ analysiert, um es hier, heute und künftig besser zu machen. Das ist mein Wunsch für unser Land.

FRIEDEN

Israel wünsche ich den ersehnten stabilen Frieden in verlässlicher Sicherheit. Einmal mehr scheint der Friedenprozess mit den Palästinensern mittelfristig ergebnislos zu bleiben. Die regionalen Umbrüche der letzten Jahre haben die Gesamtsituation im Nahen Osten noch unberechenbarer für Israel werden lassen. Die harmoniesüchtige Leichtgläubigkeit des Westens gegenüber Iran ist gefährlicher Selbstbetrug auf Kosten Israels.

Mehr denn je braucht das Land verlässliche Partner, die das Existenzrecht und die Sicherheit des jüdischen Staates schützen und verteidigen. Glücklicherweise ist die Bundesrepublik Deutschland so ein Partner. Das ist weniger die Räson aus der Vergangenheit, sondern ein unbedingtes Bekenntnis zu den Werten der freiheitlichen Demokratie.

Für diese Werte kämpften auch die US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Einige von ihnen mit einer jener Haggadot im Gepäck, die wir nun wiederfanden. Mehr als 70 Jahre nach ihrem Entstehen haben wir sie wieder in die Hände der U.S. Army übergeben – im Bewusstsein der Notwendigkeit des Erinnerns, als Zeichen der Freundschaft und der Freiheit.

Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien Pessach sameach vekascher! Die besten Grüße und Wünsche für ein frohes und koscheres Pessach.

Ihre Charlotte Knobloch
Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern

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Oktober 2025 | Tischri-Cheschwan | « »

Aktuelle Veranstaltungen


So. 12.10.2025 | 20. Tischri 5786

Kultur

„Sputnik“: Lesung und Gespräch mit Christian Berkel

Beginn 17:00

Buchpräsentation
Sonntag, 12. Oktober 2025, 17 Uhr

Moderation: Günter Keil

Am 4. Oktober 1957 erreichen die ersten Satelliten die Erdumlaufbahn. Kurz darauf erblickt in Westberlin Sputnik das Licht der Welt. Er wächst auf zwischen den Geschichten seiner Mutter Sala und den Büchern seines Vaters Otto. Eine wichtige Lebensstation wird Paris, wo er nicht nur zur Schule geht, sondern Theater und Varieté für sich entdeckt. Die Rückkehr nach Deutschland fällt in eine Umbruchszeit auch der Theaterwelt der 70er Jahre. Eine wilde Phase des Experimentierens bricht an, bis Sputnik wie so viele vom Mauerfall 1989 überrollt wird. Und zu ahnen beginnt, wer er ist, oder zumindest, wer er sein könnte. In seinem dritten Roman begibt sich Christian Berkel erneut auf eine sehr persönliche Spurensuche, die bis in eine erschreckend veränderte Gegenwart führt. Weiterlesen »

Sa. 18.10.2025 | 26. Tischri 5786

Kultur

26. Lange Nacht der Museen in München

Beginn 20:30

Vortrag und Konzert
Beitrag der IKG München und Oberbayern zur Langen Nacht

Samstag, 18. Oktober 2025, 20:30–23:00 Uhr

Auf einen Blick:

Vorträge (je 30 Minuten)

  • 20:30 Uhr: Dr. Elisabeth Rees-Dessauer
  • 21:45 Uhr: Ellen Presser

21:00 und 22:15 Uhr: Konzert des Synagogenchors unter Leitung von David Rees (je 30 Minuten), Begleitung am Piano: Luisa Pertsovska Weiterlesen »

Mo. 03.11.2025 | 12. Cheschwan 5786

Kultur

Mit Dmitrij Kapitelman: „Russische Spezialitäten“

Beginn 19:00

Buchpräsentation und Gespräch
Montag, 3. November 2025, 19 Uhr

Moderation: Ellen Presser

Eine ukrainisch-jüdisch-moldawische Familie, lebt in Leipzig, wo sie russische Spezialitäten verkauft. Und zwar an Osteuropäer, die sich zwischen russischen Flusskrebsen, ukrainischem Wodka und georgischen Sonnenblumenkernen zuhause fühlen. Doch seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nichts mehr wie zuvor. Die Mutter glaubt den Propagandasendungen des russischen Fernsehens. Ihr Sohn, der keine Sprache mehr als die russische liebt, keinen Menschen mehr als seine Mutter, keine Stadt mehr als Kyjiw, verzweifelt. Um seine Mutter zur Vernunft zu bringen, begibt er sich per Flixbus nach Kiew. Oder wie man inzwischen liest: Kyjiw, von wo er ihr die Wahrheit mitzubringen hofft. Weiterlesen »

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