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27. Januar 2014

Deutsche Schulbücher sind beim Thema Holocaust unpräzise

Von Jan Friedmann, erschienen auf Spiegel Online, 27.1.2014. In deutschen Schulbüchern steht mehr denn je über den Holocaust. Doch viele Informationen über den Mord an den Juden Europas sind laut Historikern ungenau. Eine neue Studie zeigt: In den Lehrplänen vieler Staaten fehlt das Thema ganz.

Dass jemand „sein Leben verlor“, schreiben Journalisten häufig in ersten Meldungen, wenn sie zunächst nicht genau wissen, was passiert ist, ein Unglück oder ein Mord. Als Beschreibung eines Verbrechens, das 75 Jahre zurückliegt und gut erforscht ist, findet Peter Carrier die Floskel unpassend. Er kritisiert die Worte, mit denen im Schulbuch „Denkmal Geschichte 9/10“ die Pogromnacht von 1938 geschildert wird.

Carrier arbeitet am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig und hat zahlreiche solcher Schulbücher ausgewertet, dazu die Lehrpläne in Deutschland und 125 weiteren Staaten. Ziel des einzigartigen, von der Unesco geförderten Projekts: herauszufinden, wie Schulplaner und Autoren den Mord an den europäischen Juden darstellen.

An diesem Montag, dem Holocaust-Gedenktag, werden die Forscher des Leibniz-Institutes auf einer Veranstaltung in Paris erste Ergebnisse vorstellen. Sie fallen für die Schulpraktiker nicht so positiv aus, wie es die Bedeutung des Themas vermuten lässt.

Nur in der Hälfte der untersuchten Staaten ist der Holocaust in den Lehrplänen aufgeführt – und das teilweise mit merkwürdigen Formulierungen. Es finden sich keine länderübergreifenden Standards in den Schulbüchern. „Die Erzählperspektive, die Nutzung von bestimmten und unbestimmten Artikeln, die Verwendung des Passivs und der Metaphorik sowie der Grad der erzählerischen Einfühlung in Protagonisten unterscheiden sich zum Teil gravierend“, schreiben die Forscher.

Entweder ausgeblendet oder nur teilweise erklärt

Der mexikanische Geschichtslehrplan für 2013 führt den Judenmord verkürzend unter „Folgen der Nutzung neuerer Technologien im Krieg“ und „Missachtung der Menschenrechte“. Chinesische und ruandische Schulbücher erwähnen den Holocaust laut Studie nur im Vergleich zu den örtlichen Völkermorden.

In Ländern des Nahen Ostens wird demnach der Mord an den europäischen Juden „entweder ausgeblendet, nur teilweise erklärt oder mit unscharfen Begriffen gekennzeichnet“. Und indische Schulbuchautoren, die rechtskonservativen Hindu-Parteien nahestehen, preisen gar die „kompromisslosen nationalen Ideale“ der Nazis und verschweigen den Holocaust.

In Deutschland sind, wie in anderen Industrieländern auch, eigenständige Unterrichtseinheiten vorgesehen – ein Modell, das die Schulbuchforscher favorisieren. Aber es hapert hierzulande an fachlichen und sprachlichen Details. So können Schüler und Lehrer nicht sicher sein, dass der neueste Forschungsstand berücksichtig ist. „Hitler hatte seine Absicht, die Juden zu vernichten, schon am 30. Januar 1939 zu erkennen gegeben“: Mit diesem Satz beginnt das Kapitel „Der Völkermord“ im Schulbuch „Das waren Zeiten 4“. Carrier hält ihn für problematisch, weil Täterschaft und Verantwortung „stark personalisiert“ würden, ganz so, als sei Hitler allein für die Massenverbrechen verantwortlich. Eine Überschrift wie „Die Bevölkerung wird verführt“ aus demselben Lehrwerk sei „irreführend beziehungsweise verharmlosend“.

Fachliche Fehler und Ungereimtheiten

Die kritischen Befunde stimmen überein mit einer Analyse des Geschichtsdidaktikers und Holocaust-Forschers Thomas Sandkühler von der Humboldt-Universität Berlin. Der Historiker untersuchte in einem 2012 veröffentlichten Aufsatz Geschichtsbücher, die in den Schulen der Hauptstadt verwendet werden. Sein Ergebnis: Es fänden sich darin eine „Vielzahl fachlicher Fehler, Ungereimtheiten und unpräziser Beschreibungen“, die „historische Aufklärung über den Judenmord“ werde bisweilen durch „moralische Appelle“ ersetzt.

So ist in einem Werk davon die Rede, dass das NS-Regime neben Polen auch in Russland Vernichtungslager errichtet habe, was nicht den Tatsachen entspricht. In einem anderen heißt es, die deutschen Juden hätten nach der Pogromnacht ihre Staatsangehörigkeit verloren; dabei trat die entsprechende Verordnung zum Reichsbürgergesetz erst 1941 in Kraft. Ein typischer Fehler: die falschen Begriffe „Sonderkommando“ oder „Sondereinheiten“ für die mordenden Einsatzgruppen und Einsatzkommandos. Wahrscheinlich seien, so schreibt Sandkühler, die Mängel in den Unterrichtsmaterialien „über Berlin hinaus verallgemeinerungsfähig“. Nötig sei eine „bessere Qualitätskontrolle von Schulbüchern“.

Verharmlosende Absicht bescheinigen die Kritiker den Autoren und Verlagen indes nicht. Nationalsozialismus und Holocaust würden „intensiver als je zuvor verhandelt“, heißt es in einem Aufsatz des Georg-Eckert-Instituts. Im internationalen Vergleich habe die deutsche Schulbuchlandschaft eine „fast beispiellose Breite und Diversität“. Doch die Vielfalt macht auch anfällig für Fehler. Die wiegen bei Schulbüchern besonders schwer, schließlich handelt es sich um „staatlich approbiertes und hinreichend legitimiertes Wissen“, wie es das Georg-Eckert-Institut formuliert.

Ein standardisiertes, weltweites Curriculum für den Unterricht über den Holocaust hält der stellvertretende Direktor Eckhardt Fuchs dennoch nicht für sinnvoll: „Geschichte wird von Generation zu Generation neu interpretiert, und dabei fließen regionale Besonderheiten ein.“ Stattdessen fordern Fuchs und seine Mitautoren in ihren Empfehlungen, die „historische Faktizität“ zu stärken. Neben die „von Autorentexten dominierten Schulbucherzählungen“ sollten vermehrt Quellen, Zitate und Zeugenaussagen treten. Weltweit sei eine „realistische und angemessene Form“ der Darstellung zu gewährleisten.

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