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5. Oktober 2012

Dortmund: Gericht lässt Neonazi-Größe frei

Von Jörg Diehl, erschienen auf Spiegel Online, 2.10.2012. Er gilt als einer der gefährlichsten Neonazis in NRW: Der Dortmunder Sven K. saß nach einem Angriff auf türkischstämmige Jugendliche in Untersuchungshaft. Nun hat das Landgericht den vorbestraften Gewalttäter wieder freigelassen – Wiederholungsgefahr bestehe nicht.

Wenn am Dienstag, 2.10.2012, die 31. Große Strafkammer des Dortmunder Landgerichts Feierabend macht, klicken keine Handschellen mehr. Der Angeklagte Sven K., der vor Jahren einen Punker erstach und zuletzt zwei türkischstämmige Jugendliche zusammengeschlagen haben soll, wird den Saal 34 als freier Mann verlassen. Die Untersuchungshaft gegen den berüchtigten Neonazi wurde aufgehoben, weil die Richter keine Gefahr mehr erkennen können – weder die der Flucht noch die einer Wiederholung brutaler Attacken.

Die Empörung darüber, dass ausgerechnet einer der vermeintlich gefährlichsten rechten Straftäter des Landes wieder auf freien Fuß kommt, greift nun in Dortmund um sich. Die wissenschaftliche Leiterin der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Back Up, Claudia Luzar, spricht von einer „krassen Fehleinschätzung“ und teilt mit: „Aus Sicht der Opfer ist die Freilassung ein unerhörter Vorgang.“ Sven K. stelle zweifelsfrei eine Bedrohung für ihre Klienten dar. Das Gericht vernachlässige „sträflich“ den Schutz der Opfer.

Sven K. hatte im März 2005 an einer U-Bahn-Haltestelle den Punker Thomas „Schmuddel“ S. erstochen. Das Landgericht Dortmund, das für den Totschlag eine Jugendstrafe von sieben Jahren verhängte, erkannte in seinem Urteil, dass der damals 17-Jährige in „seiner sozialen-sittlichen Entwicklung erhebliche Defizite“ aufwies.

Angriff auf dem Weihnachtsmarkt

Als K. im Herbst 2010 vorzeitig auf freien Fuß kam, schien sich daran nicht viel geändert zu haben. Der Dortmunder Antifa zufolge suchte der Rechtsradikale umgehend den Kontakt zu seinen Gesinnungsgenossen – und schreckte möglicherweise trotz Bewährungsauflagen nicht vor neuerlichen Straftaten zurück.

Im Dezember 2010, nachts um 1 Uhr, sah man kahl rasierte Schädel, breite Schultern und Bomberjacken, man hörte wütende Schreie und Beschimpfungen. Ein Dutzend Neonazis griff die linke Dortmunder Szenekneipe HirschQ („Asozial aus Tradition“) an, mehrere Personen wurden verletzt. „Wir bedauern“, sagte der Stadtsprecher hinterher, „dass erneut Menschen Opfer von rechter Gewalt geworden sind.“

Besonders brisant an dem Vorfall: An der Attacke soll auch Sven K. beteiligt gewesen sein. Noch in der Nacht nahm die Polizei ihn fest. Er bestritt jedoch vehement eine Beteiligung an dem Überfall und durfte wieder nach Hause gehen. Die linke Szene schäumte und unterstellte den Behörden eine ausgeklügelte Verschleppungstaktik, was die allerdings zurückwiesen.

Im November 2011 schließlich soll Sven K. gemeinsam mit Gesinnungsgenossen zwei türkischstämmige Jugendliche auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt zusammengeschlagen haben. Nach der Aussage eines der Opfer rief K. damals: „Guck nicht so blöd, du Bastard.“ Sven K. und seine Kameraden widersprechen dieser Darstellung, sie wollen sich lediglich gegen Provokationen gewehrt haben. Der Prozess gegen die Extremisten läuft seit Mai.

„Schwierig zu erklären“

Dass der Angeklagte trotz seiner Vorgeschichte aus der U-Haft entlassen wird, stößt auch bei der Staatsanwaltschaft Dortmund auf Unverständnis: Sie hat Beschwerde eingelegt. Eine Sprecherin der Ermittlungsbehörde sagt auf Anfrage, man interpretiere die gesetzlichen Vorgaben in diesem Fall deutlich anders als die Kammer: „Wir halten den Beschluss des Gerichts für falsch.“ Ein Vertreter der Stadtverwaltung teilt mit, man sei sehr erschrocken, dass Sven K. sich nun wieder auf freiem Fuß befinde.

Der Sprecher des Landgerichts wiederum, der die Entscheidung seiner Kollegen verteidigen muss, sagt erst einmal, sie sei „schwierig zu erklären“. Die Kammer, so Roland Büchel, habe im Verlauf des Verfahrens gegen Sven K. davon ausgehen müssen, dass die ursprünglich angenommene Fluchtgefahr nicht mehr gegeben sei. Der Grund: Die zu erwartende Strafe wird wohl nicht so hoch ausfallen, dass die Kammer von einer Flucht ausgehen muss. Auch sei im Laufe des Prozesses die „enge Bindung des Angeklagten zu seiner Mutter“ deutlich geworden, so Büchel.

Darüber hinaus profitiert der Rechtsradikale offenbar von einer Unschärfe im Gesetz. Eine Wiederholungsgefahr, mit der die Untersuchungshaft ebenfalls gerechtfertigt werden kann, sei nur dann festzustellen, wenn der Betreffende im Laufe von fünf Jahren bestimmte Taten wiederholt begangen habe, sagt der Gerichtssprecher. Die tödliche Messerattacke auf den Punker Thomas S. liege jedoch bereits sieben Jahre zurück. Zudem sei das Delikt Totschlag nicht in dem Katalog der Straftaten enthalten, mit denen das Gesetz den Wiederholungsfall definiere.

Aktive Kameraden

Dortmund galt lange Zeit als Schwerpunkt der rechten Szene in Nordrhein-Westfalen. Die Rechtsextremisten gerierten sich als Platzhirsche auf den Straßen der Stadt, so unverhohlen, dass sich selbst Szeneaussteiger später darüber wunderten, wie sie sich über Jahre hatten aufführen können. Doch der neue Dortmunder Polizeipräsident Norbert Wesseler und der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) machten dem Treiben ein vorläufiges Ende: Vor einigen Wochen verboten die Behörden sowohl den „Nationalen Widerstand“ um Dennis Giemsch als auch die Kameradschaft im benachbarten Hamm um Sascha Krolzig.

Inzwischen aber haben sich die Führungsfiguren der beiden geschlossenen Gesellschaften in neuer Konstellation zusammengefunden. Die Extremisten gründeten in Dortmund-Dorstfeld den nordrhein-westfälischen Ableger der Gruppierung „Die Rechte“. Dabei fungiert Giemsch nun als Landesvorsitzender, Jurastudent Krolzig soll laut Pressemitteilung auf „juristische Fragen eine Antwort finden“. Zum Ziel setzen sie es sich, das angeblich „enorme Potential im Rheinland und Westfalen“ auszuschöpfen.

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Eine ukrainisch-jüdisch-moldawische Familie, lebt in Leipzig, wo sie russische Spezialitäten verkauft. Und zwar an Osteuropäer, die sich zwischen russischen Flusskrebsen, ukrainischem Wodka und georgischen Sonnenblumenkernen zuhause fühlen. Doch seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ist nichts mehr wie zuvor. Die Mutter glaubt den Propagandasendungen des russischen Fernsehens. Ihr Sohn, der keine Sprache mehr als die russische liebt, keinen Menschen mehr als seine Mutter, keine Stadt mehr als Kyjiw, verzweifelt. Um seine Mutter zur Vernunft zu bringen, begibt er sich per Flixbus nach Kiew. Oder wie man inzwischen liest: Kyjiw, von wo er ihr die Wahrheit mitzubringen hofft. Weiterlesen »

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