Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

Nachrichten

« Zurück

20. August 2012

Israels Dilemma: Iran angreifen oder nicht?

Von Ulrich W. Sahm, Jerusalem, erschienen auf n-tv Online,  20.8.2012.  Der israelischen Regierung läuft die Zeit davon: Wenn sie die iranischen Atomanlagen nicht jetzt zerstören lässt, könnte es zu spät sein. Dann müsste Israel auf die USA vertrauen – oder darauf hoffen, dass der Iran seine Drohungen nicht wahrmacht.

Israel steht vor einem Dilemma: mit einem atomar aufgerüsteten Iran zu koexistieren und dessen Vernichtungsdrohungen tatenlos hinzunehmen oder im Alleingang das iranische Atomprogramm zu zerstören.

„Alle Drohungen gegen die israelische Heimatfront verschwinden hinter einer anderen Bedrohung“, sagte Benjamin Netanjahu am Sonntag bei der wöchentlichen Sitzung des Kabinetts. „Daher habe ich stets bekräftigt und bekräftige nun wieder: Der Iran darf nicht in den Besitz von Atomwaffen gelangen.“ Dieser Satz wird als offene israelische Drohung, als „Kriegshetze“, „Säbelrasseln“, „Verschärfung des Anti-Iran Kurses“ und als Hinweis auf israelische Militärpläne gewertet, obwohl der israelische Premier verschweigt, was er beabsichtigt.

Zahllose israelische Experten haben sich in letzter Zeit zu Wort gemeldet: Forscher, ehemalige Militärs und Politiker. Alle räumen ein, weder neueste Geheimdienstinformation zum aktuellen Stand des iranischen Atomprogramms noch die heutigen Fähigkeiten der israelischen Luftwaffe zu kennen. In Israels Medien erklärten sie das Dilemma:

  • Sobald Iran atomar ausgestattet ist, kann er nicht mehr bombardiert werden. Er wäre militärisch „immun“.
  • Israel verfügt wegen der großen Entfernungen nur über beschränkte Mittel, die über ganz Iran verstreuten Atominstallationen zu zerstören. Je länger gewartet wird, desto unerreichbarer werden die von Iran in Bunker oder Berge verlegten Anlagen. Israel läuft die Zeit davon.
  • Die USA haben weit bessere Möglichkeiten, weil näher am Ziel und mit größeren Bomben ausgestattet. Sie haben daher längeren Atem, noch ein paar Monate auszusitzen. Allerdings müssten die USA selbst zum Schluss kommen, dass diplomatische Druckmittel und Sanktionen nicht fruchten und dass eine iranische A-Bombe amerikanische Interessen wie Öl und seine Verbündete unerträglich bedroht.

In diesem zeitlichen Spannungsfeld ergibt sich für Israel ein präzedenzloses Dilemma. Der Staat Israel ist mit der Lehre aus dem Holocaust entstanden, nie wieder von anderen Ländern abhängig zu sein, wenn es um das eigene Überleben geht. Gleichwohl befand sich Israel nie in einem Vakuum. Es hatte immer Verbündete, die Waffen lieferten und politisch an seiner Seite standen: Sowjets, Briten, Franzosen und ab 1970 die Amerikaner. Gleichwohl fragte Israel nie, ob es sich verteidigen dürfe oder angreifen. 1991 nahm Israel Rücksicht, als es auf Raketenbeschuss aus Irak nicht reagierte, während die Bevölkerung mit Gasmasken in abgedichteten Zimmern saß.

Den Iran jetzt nicht anzugreifen bedeutet für Israel, sich amerikanischer Willkür auszuliefern. Entweder stoppen die das iranische Atomprogramm oder aber konfrontieren Israel damit, tägliche iranische Vernichtungsdrohungen tatenlos hinnehmen und dem Funktionieren eines amerikanisch finanzierten Abwehrschirms vertrauen zu müssen. Für ein Volk mit Holocausttrauma könnte das ein unerträglicher Zustand werden.

Gegen einen amerikanischen Militärschlag in nächster Zukunft sprechen der derzeitige Wahlkampf, die Wirtschaftskrise und schlechte Erfahrungen mit militärischen Abenteuern in Irak und Afghanistan. Die Instabilität in der arabischen Welt, besonders in Syrien, sowie die Politik der Vetomächte Russland und China würden selbst einen erfolgreichen Schlag gegen Irans Atomprogramm zu einem Abenteuer mit unberechenbaren Folgen machen. Zudem glauben die Amerikaner offensichtlich an die Wirksamkeit der schmerzhaften Sanktionen.

Im Gegensatz zu Israel besteht für die Amerikaner keine Dringlichkeit, jetzt zu handeln. Während Israel das iranische Atomprogramm bestenfalls um ein paar Jahre hinauszögern könnte, wären die Amerikaner auch in Zukunft fähig, es nachhaltig zu zerstören.

Israelische Experten erwähnen zudem die „historische Erfahrung“, dass die USA weder Nordkorea noch Pakistan gewaltsam am Bau einer Atombombe gehindert hätten.

Der von Menachem Begin 1981 heimlich beschlossene und erfolgreiche Angriff auf den irakischen Atomreaktor Osirak bei Bagdad, ohne Rücksprache mit den USA, könne nicht als Präzedenzfall dienen, so die Experten. Ebenso der mutmaßlich israelische Angriff auf den syrischen Reaktor Al Kabir im September 2007.

Über Iran wird seit 15 Jahren öffentlich debattiert. Iran ist zudem vorgewarnt und hat seine Lehren aus der Erfahrung des Irak gezogen. Seine Anlagen sind befestigt, und israelische Kampfflugzeuge müssten unvergleichbar größere Herausforderungen meistern.

Noch existiert keine israelische Absichtserklärung, den Iran anzugreifen, und alle kursierenden Militärpläne erweisen sich als Spekulation. Es gilt, was Verteidigungsminister Ehud Barak gesagt und der amerikanische Verteidigungsminister Leon Panetta jüngst bestätigt hat: „Noch ist in Jerusalem kein Beschluss gefallen.“

Alle Beiträge der Kategorie Nachrichten ansehen »

VeranstaltungenÜberblick »

Aktuelle Veranstaltungen


Mi. 19.06.2024 | 13. Siwan 5784

Kultur

Moses Mendelssohn, Gotthold Ephraim Lessing, Immanuel Kant und die Erziehung des Menschengeschlechts

Beginn 19:00

Vortrag von R. Prof. emer. Dr. Dr. h.c. Daniel Krochmalnik
Ein Beitrag der Reihe „Die Umkehr des Denkens. 300 Jahre Immanuel Kant“

Mittwoch, 19. Juni 2024, 19 Uhr

Anfang der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts erscheinen in dichter Folge drei grundlegende Texte: „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ von Gotthold Ephraim Lessing (1780), „Jerusalem oder Religiöse Macht und Judentum“ von Moses Mendelssohn (1783) und „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ von Immanuel Kant (1784). Darin behandelt das Dreigestirn der deutschen Aufklärung das Problem des Fortschritts der Menschheit. Lessing ist davon überzeugt, Mendelssohn ist skeptisch, Kant formuliert die Bedingungen der Möglichkeit. Die Verfasser nehmen auch Bezug aufeinander und ihr kontroverses Gespräch ist für die Geschichtsphilosophie bis heute von grundlegender Bedeutung. Weiterlesen »

Mi. 26.06.2024 | 20. Siwan 5784

Kultur

„Was habe ich mit Juden gemeinsam?“ – Franz Kafkas Identitäten

Beginn 19:00

Reiner Stach in Zwiesprache mit Franz Kafka
Ein Beitrag zum 100. Todestag von Franz Kafka (1883 – 1924)

Mittwoch, 26. Juni 2024, 19 Uhr

Kafkas Werke beschreiben eine Welt, in der nichts verlässlich ist, in der sich Ordnung immerzu auflöst und das Vertrauteste plötzlich fremd werden kann. Wir wissen heute, dass dies keine Vision war, sondern gelebte Erfahrung. Kafka wuchs auf in einem Spannungsfeld zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen orthodoxem, liberalem und zionistisch gesinntem Judentum, in dem die Frage der Identität fortwährend neu verhandelt wurde. Hinzu trat eine unglückliche familiäre Konstellation, die Kafka in die Rolle eines sozialen Zaungasts drängte. Gibt es überhaupt eine menschliche Gemeinschaft, so fragte er sich, zu der ich im tiefsten Sinn des Wortes „gehöre“? Weiterlesen »

Alle Veranstaltungen »

Israelitische Kultusgemeinde
Kontakt
Israelitische Kultusgemeinde
München und Oberbayern K.d.ö.R.
St.-Jakobs-Platz 18
80331 München
Tel: +49 (0)89 20 24 00 -100
Fax: +49 (0)89 20 24 00 -170
E-Mail: empfang@ikg-m.de