Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern

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16. November 2014

„Mahnung und Warnung“

Die IKG erinnerte im Alten Rathaus an die Opfer der „Reichskristallnacht“. Von Helmut Reister, erschienen in der Jüdischen Allgemeinen, 13.11.2014. Der Festsaal im Alten Rathaus mit der hohen Decke, den hölzernen Vertäfelungen und den imposanten Leuchten war für die Gedenkfeier zum Jahrestag der »Reichskristallnacht« am Sonntag vergangener Woche ein würdiger, aber auch ein beklemmender Ort.Vor genau 76 Jahren, am 9. November 1938, gab hier Joseph Goebbels mit einer hasserfüllten Hetzrede den Startschuss für einen bis dahin beispiellosen Exzess antisemitischen Terrors. Unter den vielen Gästen der Gedenkfeier, die die Erinnerung an die Pogromnacht aufrechterhalten wollten, befanden sich auch einige in München lebende Juden, die die Schreckensereignisse erlebt und überlebt haben. Auch IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch gehörte dazu.

Gemeindevertreter, Politiker und Bürger würdigen gemeinsam die Opfer des 9. November 1938. © Marina Maisel

 

„Ermutigendes Zeichen“

Die Ergriffenheit der Präsidentin, ihre rückblickenden Gedanken an das Unfassbare in dieser Novembernacht des Jahres 1938, waren förmlich spürbar, als sie ans Rednerpult trat. Dennoch sei diesmal etwas anders als bei den Gedenkveranstaltungen der vergangenen Jahre, merkte die Präsidentin hinsichtlich der Explosion des Judenhasses während des Gaza-Kriegs dieses Jahr an. »Rückblickend auf diesen Sommer des antisemitischen Hasses stelle ich 76 Jahre nach der sogenannten Reichskristallnacht dieselbe Frage, die ich mir als Sechsjährige gestellt habe: Warum lassen Menschen so etwas zu?«

Auch Oberbürgermeister Dieter Reiter ging in seiner Rede auf dieses Aufflammen des Antisemitismus ein: »Wie ungehemmt und aggressiv rechtsextremistischer, rassistischer, menschenverachtender Hass geschürt, gegrölt und in die Gesellschaft getragen wird, das hat vor Kurzem erst wieder die Welle der antisemitischen Anfeindungen und Übergriffe gezeigt, die jüdischen Bürgern unter dem Deckmantel der Kritik am israelischen Vorgehen gegen die Hamas in Gaza entgegenschlug.«

Dass sich dann die Kultusgemeinde genötigt sah, selbst eine Kundgebung unter dem Motto »Wehret den Anfängen« zu organisieren, sei »alarmierend«. Der Oberbürgermeister, der auch auf die besondere Verantwortung Münchens als ehemalige »Hauptstadt der Bewegung« hinwies, glaubt trotzdem, ein »ermutigendes Zeichen« entdeckt zu haben: die breite und positive Resonanz, die die Kundgebung am 29. Juli auf dem Platz der Opfer des Nationalsozialismus gefunden habe.

„Es sind Dinge geschehen, die nicht für möglich gehalten wurden.“

Auch Reiters Vorgänger im Amt des Oberbürgermeisters, Christian Ude, zeigte sich bestürzt über das Aufflammen antisemitischen Hasses und den offenkundigen Anstieg des Rechtsextremismus. Mit Blick auf die beispiellose Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« resümierte er: »Es sind Dinge geschehen, die nicht für möglich gehalten wurden.«

Ein Beleg dafür, dass das Wachhalten der Erinnerung an die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis in München einen sehr hohen Stellenwert genießt, war die Anwesenheit aller ehemaligen Stadtoberhäupter. Neben dem amtierenden Oberbürgermeister Dieter Reiter waren auch seine Vorgänger Christian Ude, Hans-Jochen Vogel und Georg Kronawitter im Alten Rathaus erschienen.

Die Veranstaltung, die vom Ensemble des Polizeiorchesters Bayern musikalisch begleitet wurde, schloss sich an eine öffentliche Namenslesung am Gedenkstein der ehemaligen Hauptsynagoge an. Münchner Bürger, Schüler sowie Angehörige der Bundeswehr und der Polizei hatten am Nachmittag die Namen von rund 500 jüdischen Bürgern verlesen, die im Ersten Weltkrieg als Soldaten ihren »Dienst am Vaterland« geleistet hatten. Auch sie wurden in der »Reichskristallnacht« und den darauf folgenden Jahren deportiert und ermordet.

Namenslesung am Gedenkstein der Alten Hauptsynagoge: »Die Namen flüstern ›Nie wieder!‹« © Marina Maisel

 

„Verstörende Geschichte“

Das Schicksal der Juden, die vor 100 Jahren im Ersten Weltkrieg für Deutschland in den Krieg zogen, beleuchtete bei der Gedenkfeier General a.D. Wolfgang Schneiderhan. Sein Vortrag mit dem Titel »Dazu hält man für sein Land den Schädel hin« führe zurück zu einer »verstörenden Geschichte«, wie er ankündigte.

Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr wies vor allem aber auch auf die Konsequenzen hin, die heute gezogen werden müssten: »Das Drama der Entrechtung jüdischer Staatsbürger in Uniform in der Gesellschaft und den Streitkräften muss Teil unseres gemeinsamen Gedächtnisses werden.« Die Mahnung und Warnung zur freiheitlichen Grundordnung sei eine Lehre der Geschichte, die man nicht ignorieren könne, so Schneiderhan.

»Hat die Welt, haben wir Deutschen aus den Fehlern gelernt?« Es war ein leicht zweifelnder Unterton zu spüren, als Charlotte Knobloch diese Frage den vielen prominenten Gästen der Gedenkfeier stellte und an das Entstehen des Nationalsozialismus erinnerte: »Die Wirklichkeit war damals offenkundig, aber viele Deutsche sowie die Mächtigen im Ausland wollten sie nicht sehen. Sie blieb ihnen verborgen in einer Wolke von Illusionen.«

Hass hinterließ tiefe Wunden

Wiederholt sich das? Die judenfeindlichen Demonstrationen vom Sommer beunruhigen die IKG-Präsidentin zutiefst: »Die Wucht, mit der uns in diesem Jahr der blanke Hass getroffen hat, hinterließ tiefe Wunden. Es waren nicht nur Islamisten, die mit antijüdischer Hetze agierten. Die aufgeheizte Stimmung fand auch viele Mitstreiter von Links und Rechts sowie in der breiten bürgerlichen Mitte, wo Antisemitismus nach wie vor auf fruchtbaren Boden fällt.«

Charlotte Knobloch erinnerte sich bei der Gedenkfeier an ihr persönliches Erlebnis in der schicksalhaften Nacht vor 76 Jahren, als ihr Vater sie fest an die Hand nahm. An die Gäste gewandt, sagte sie: »Wenn ich heute in Gedanken die Hand meines Vaters drücke, denke ich an jene Nacht im Jahr 1938, aber auch an die Kundgebung am 29. Juli. Ich blicke in Ihre Gesichter und bitte Sie: Lassen Sie nicht zu, dass wir Juden fürchten müssen, erneut einer Illusion erlegen zu sein.«

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